Der Steppenwolf
«Harry bedenkt zuviel moralisch. Nichts zu machen. Wäre doch so schön gewesen, so sehr schön! Aber ich weiß Ersatz.» Wir bekamen jeder einige Züge Opium zu rauchen, und regungslos sitzend, bei offenen Augen, erlebten wir alle drei die von ihm suggerierte Szene, wobei Maria vor Entzücken zitierte. Als ich mich nachher ein wenig unwohl fühlte, legte mich Pablo aufs Bett, gab mir einige Tropfen Medizin, und als ich für einige Minuten die Augen schloß, spürte ich auf jedem Augenlid einen ganz flüchtigen, gehauchten Kuß. Ich nahm ihn hin, als sei ich der Meinung, er komme von Maria. Aber ich wußte wohl, daß er von ihm war.
Und eines Abends überraschte er mich noch mehr. Er erschien in meiner Wohnung, erzählte mir, daß er zwanzig Franken brauche und daß er mich um dies Geld bitte. Er biete mir dafür an, diese Nacht statt seiner über Maria zu verfügen.
«Pablo», sagte ich erschrocken, «Sie wissen nicht, was Sie da sagen. Seine Geliebte an einen ändern für Geld abtreten, das gilt bei uns für das 126
Allerschimp flichstc. Ich habe Ihren Vorschlag nicht gehört, Pablo.»
Mitleidig sah er mich an. «Sie wollen nicht, Herr Harry. Gut. Sie machen immer sich selber Schwierigkeiten. Dann schlafen Sie also heute nacht nicht bei Maria, wenn Ihnen das lieber ist, und geben Sie mir das Geld so, Sie werden es zurückbekommen. Ich brauche es notwendig.»
«Wofür denn?»
«Für Agostino — wissen Sie, das ist der Kleine von der zweiten Violine. Er ist schon acht Tage krank, und niemand sieht nach ihm, Geld hat er keinen Pfennig, und jetzt ist auch meines ausgegangen.»
Aus Neugierde, und ein wenig auch zur Selbstbestrafung, ging ich mit zu Agostino, dem er Milch und Medizin in seine Dachkammer brachte, eine recht elende Dachkammer, dem er das Bett frisch aufschüttelte, das Zimmer lüftete und eine hübsche kunstgerechte Kompresse um den fiebernden Kopf machte, alles rasch und zart und sachkundig, wie eine gute Krankenschwester. Am gleichen Abend sah ich ihn, bis in die Morgenstunden, in der CityBar musizieren.
Mit Hermine sprach ich oft lange und sachlich über Maria, über ihre Hände, Schultern, Hüften, über ihre Art zu lachen, zu küssen, zu tanzen.
«Hat sie dir das schon gezeigt?» fragte Hermine einmal und beschrieb mir ein besonderes Spiel der Zunge beim Kuß. Ich bat sie, es mir doch selbst zu zeigen, doch wies sie mich ernsthaft ab. «Das kommt später», sagte sie, «noch bin ich nicht deine Geliebte.»
Ich fragte sie, woher sie denn Marias Kußkünste und manche geheime, nur dem liebenden Mann bekannte Besonderheiten ihres Lebens kenne.
«Oh», rief sie, «wir sind doch Freunde. Glaubst du denn, wir hätten Geheimnisse voreinander? Ich habe oft genug bei ihr geschlafen und mit ihr gespielt. Nun ja, du hast da ein schönes Mädchen erwischt, die kann mehr als andre.»
«Ich glaube doch, Hermine, daß auch ihr noch Geheimnisse voreinander habt.
Oder hast du ihr auch über mich alles gesagt, was du weißt?»
«Nein, das sind andere Sachen, die sie nicht verstehen würde. Maria ist wunderbar, du hast Glück gehabt, aber zwischen dir und mir gibt es Dinge, von 127
denen sie keine Ahnung hat. Ich habe ihr viel über dich gesagt, natürlich, viel mehr, als dir damals lieb gewesen wäre — ich mußte sie doch für dich verführen!
Aber verstehen, Freund, so wie ich dich verstehe, wird Maria dich nie und keine andere. Ich habe auch von ihr noch einiges zugelernt — ich weiß über dich, soweit Maria dich kennt, Bescheid. Ich kenne dich beinah so gut, wie wenn wir oft miteinander geschlafen hätten.»
Als ich wieder mit Maria zusammenkam, war es mir wunderlich und geheimnisvoll, zu wissen, daß sie Hermine ebenso an ihrem Herzen gehabt hatte wie mich, daß sie deren Glieder, Haar und Haut genau so befühlt, geküßt, gekostet und geprüft habe, wie die meinen. Neue, indirekte, komplizierte Beziehungen und Verbindungen tauchten vor mir auf, neue Liebes und Lebensmöglichkeiten, und ich dachte an die tausend Seelen des Steppenwolftraktates.
In jener kurzen Zeit, zwischen meinem Bekanntwerden mit Maria und dem großen Maskenball, war ich geradezu glücklich und hatte dabei doch niemals das Gefühl, dies sei nun eine Erlösung, eine erreichte Seligkeit, sondern spürte sehr deutlich, daß dies alles Vorspiel und Vorbereitung sei, daß alles heftig nach vorwärts dränge, daß das Eigentliche erst komme.
Vom Tanzen hatte ich so viel gelernt, daß es mir nun möglich schien, den Ball
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