Der Steppenwolf
Schwänze wedelte. Es wurde dem Wolf ein Kaninchen vorgeführt und dann ein weißes Lamm, und er bleckte zwar die Zähne und ließ den Speichel tropfen vor zitternder Begierde, berührte aber keines der Tiere, sondern sprang auf Befehl über sie, die bebend am Boden kauerten, in elegantem Schwung hinweg, ja, er legte sich zwischen Hase und Lamm nieder, umarmte beide mit den Vorderpfoten und bildete mit ihnen eine rührende Familiengruppe. Dazu fraß er aus des Menschen Hand eine Tafel Schokolade. Es war eine Qual mitanzusehen, bis zu welch phantastischem Grade dieser Wolf seine Natur hatte verleugnen lernen, und mir standen dabei die Haare zu Berg.
Für diese Qual wurde jedoch der erregte Zuschauer im zweiten Teil der Vorführung, ebenso wie der Wolf selbst, entschädigt. Nach Abwickelung jenes raffinierten Dressurprogramms nämlich und nachdem der Bändiger über der Lamm und Wolfgruppe sich triumphierend mit süßem Lächeln verbeugt hatte, 170
wurden die Rollen vertauscht. Der harryähnliche Tierbändiger legte plötzlich seine Peitsche mit tiefem Bückling dem Wolfe zu Füßen und begann ebenso zu zittern, einzuschrumpfen und elend auszusehen wie vorher das Tier. Der Wolf aber leckte sich lachend das Maul, Krampf und Verlogenheit fielen von ihm ab, sein Blick leuchtete, sein ganzer Leib wurde straff und blühte in wiedererlangter Wildheit auf.
Und nun befahl der Wolf, und der Mensch mußte gehorchen. Auf Befehl sank der Mensch in die Knie nieder, spielte den Wolf, ließ die Zunge heraushängen, riß sich mit den plombierten Zähnen die Kleider vom Leibe. Er ging, je nachdem der Menschenbändiger befahl, auf zweien oder auf vieren, machte das Männchen, stellte sich tot, ließ den Wolf auf sich reiten, trug ihm die Peitsche nach. Hündisch und begabt ging er auf jede Demütigung und Perversion phantasievoll ein. Ein schönes Mädchen kam auf die Bühne, näherte sich dem dressierten Mann, streichelte ihm das Kinn, rieb ihre Wange an seiner, aber er blieb auf allen vieren, blieb Vieh, schüttelte den Kopf und fing an, der Schönen die Zähne zu zeigen, zuletzt so drohend und wölfisch, daß sie entfloh.
Schokolade wurde ihm vorgesetzt, die er verächtlich beschnoberte und wegstieß.
Und zuletzt wurde das weiße Lamm und das fette gescheckte Kaninchen wieder hereingebracht, und der gelehrige Mensch gab sein Letztes her und spielte den Wolf, daß es eine Lust war. Mit Fingern und Zähnen packte er die schreienden Tierchen, riß ihnen Fetzen von Fell und Fleisch heraus, kaute grinsend ihr lebendiges Fleisch und soff hingegeben, trunken mit wollustgeschlossenen Augen, ihr warmes Blut.
Entsetzt floh ich durch die Tür hinaus. Dieses magische Theater, sah ich, war kein reines Paradies, alle Höllen lagen unter seiner hübschen Oberfläche. 0 Gott, gab es denn auch hier keine Erlösung?
Angstvoll lief ich auf und ab, spürte den Geschmack von Blut und den Geschmack von Schokolade im Munde, einen ebenso häßlich wie den andern, wünschte sehnsüchtig dieser trüben Welle zu entrinnen, rang inbrünstig in mir selbst um erträglichere, freundlichere Bilder. «O Freunde, nicht diese Töne!»
sang es in mir, und mit Entsetzen erinnerte ich mich an jene scheußlichen Photographien von der Front, die man während des Krieges zuweilen zu Gesicht 171
bekommen hatte, an jene Haufen ineinander verknäuelter Leichname, deren Gesichter durch Gasmasken in grinsende Teufelsfratzen verwandelt waren. Wie war ich damals noch dumm und kindlich gewesen, als ich mich, ein menschenfreundlich gesinnter Kriegsgegner, über diese Bilder entsetzt hatte!
Heute wußte ich, daß kein Tierbändiger, kein Minister, kein General, kein Irrsinniger Gedanken und Bilder in seinem Gehirn auszubrüten fähig war, die nicht ebenso scheußlich, ebenso wild und böse, ebenso roh und dumm in mir selber wohnten.
Aufatmend erinnerte ich mich jener Inschrift, der ich vorher, beim Beginn des Theaters, jenen hübschen Jüngling so stürmisch hatte folgen sehen, der Inschrift: Alle Mädchen sind dein
und es schien mir, alles in allem, doch eigentlich nichts anderes so begehrenswert wie dieses. Froh darüber, der verfluchten Wolfswelt wieder entrinnen zu können, ging ich hinein.
Wunderlich — so sagenhaft und zugleich so tief vertraut, daß ich aufschauerte
— kam mir hier der Duft meiner Jugend entgegengeweht, die Atmosphäre meiner Knaben und Jünglingszeit, und in meinem Herzen floß das Blut von damals. Was ich eben noch getan und gedacht hatte und
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