Der sterbende Detektiv - Roman
ein Dach über dem Kopf und Prügel rund um die Uhr für alle, die nicht nach der Pfeife tanzten oder in die Hose machten. Dazu kam die Hoffnung, adoptiert zu werden. Eine neue Mama und einen neuen Papa zu bekommen, die einen wegholten und einem ein neues Leben im kapitalistischen Himmelreich und in sicherem Abstand von der Not in Sankt Petersburg ermöglichten.
»Ich bin in Grazdanka aufgewachsen«, sagte Max. »Das war nicht gerade wie Östermalm, wo alle Reichen wohnen und Evert sein Büro hat«, verdeutlichte er.
»Ist das ein Vorort?«, fragte Johansson, der sich, obwohl er die Stadt sowohl vor als auch nach dem Fall des Kommunismus besucht hatte, nicht gut in Sankt Petersburg auskannte.
»Es gibt in dieser Stadt fast keine Vororte«, meinte Max und schüttelte den Kopf. »Es ist nicht so wie hier. Petersburg
ist eine Stadt aus Ziegelhäusern, Grazdanka ist ein Slum. In dem Haus, in dem ich mit meinen Großeltern wohnte, hatten wir das Klo auf dem Hof. Jetzt ist es besser. Das Schlimmste ist vorbei. Ich glaube nicht, dass das Personal der Heime die Kinder noch verkaufen kann. Ich glaube, Putin hat dem einen Riegel vorgeschoben.«
Der Verkauf von Kindern folgte denselben Regeln, wie der Verkauf der meisten anderen Waren auch. Die Nachfrage bestimmte den Preis, und die Kunden hatten natürlich die zu erwartenden Vorlieben, was so ein Kind betraf. Sie sollten so jung wie möglich sein, natürlich gesund, lieb und hübsch. Mädchen waren beliebter als Jungen.
»Sie blieben also übrig«, stellte Johansson grinsend fest.
»Versteht sich«, erwiderte Max und lächelte ebenfalls. »Ich sah aus wie jetzt, obwohl ich damals nicht größer war als eine Spielkarte.«
»Es kam nie zu einem Geschäft?«, fragte Johansson.
»Einmal kam tatsächlich so ein fetter, finnischer Alter und begann an mir herumzudrücken«, meinte Max. »Seine Alte war noch fetter. Da sprang ich auf und verpasste ihm eins mit dem Schädel. Meine Güte, wie viel Prügel ich anschließend bezogen habe. Ich konnte den Rest der Woche nur auf dem Bauch schlafen.«
Das Kinderheim, in dem Max vier Jahre lang wohnte, war einmal ein Krankenhaus gewesen. Ein Jahr, bevor es ihn dorthin verschlug, war es notdürftig für seinen neuen Zweck umgebaut worden. Platz für dreihundert Kinder und etwa zwei Dutzend Angestellte, fast alle Frauen. Die Kinder nach demselben Prinzip sortiert wie der Inhalt einer Kommode. Säuglinge und die ganz Kleinen ganz unten, Kinder zwischen sechs und zwölf ein Stockwerk höher, Mädchen und Jungen
getrennt durch einen langen Korridor. Im obersten Geschoss wohnten die großen Kinder. Mit fünfzehn war es dann Zeit, in ein anderes Heim umzuziehen.
»Wenn man Haare zwischen den Beinen bekam, dann war es Zeit, ins oberste Stockwerk umzuziehen. Wenn meine Mutter noch ein weiteres Jahr gewartet hätte, dann wäre ich auch dort gelandet. Wohnte man erst mal dort oben, dann war es für alles zu spät.«
»Das kann ich mir vorstellen«, meinte Johansson.
»Ich hatte ein paar ältere Freunde, die oben wohnten. Sie sind heute alle tot. Schnaps, Thinner, Lösungsmittel, Rauschgift, Kriminalität. Aus dem Heim ging es direkt auf die Straße. Einer meiner besten Freunde war vier Jahre älter als ich. Er trank eine Flasche Methanol, die er eingeschmuggelt hatte, und starb noch in derselben Nacht. Dreizehn Jahre alt.«
»Erhielten Sie keine Ausbildung? Es muss doch eine Schule gegeben haben?«
»Klar«, sagte Max. »Die lag im Nachbarhaus. Man lernte dort lesen, schreiben und rechnen, aber vor allem gab es praktischen Unterricht. Das bedeutete einfach Arbeit in der Werkstatt. Ich habe ein ganzes Jahr lang Paletten zusammengenagelt. Mein letztes Jahr. Vorher habe ich leere Gläser gespült und Kartoffeln geschält. Das Personal hatte sich darauf verlegt, den Ertrag unserer Arbeit einzusacken. Dass wir lesen lernten, brachte ihnen schließlich nichts ein.«
»Einsacken?«, fragte Johansson.
»Das Geld in die eigene Tasche zu stecken«, sagte Max. »Wir arbeiteten für viele verschiedene Kunden. Restaurants, kleine Werkstätten, Geschäfte, Bauunternehmen. Gelegentlich kam ein Lastwagen und kippte eine Ladung Bauschutt auf den Hof. Dann rannten wir nach draußen und zogen Nägel aus den Brettern und stapelten diese auf. Klopften Mörtel von alten Ziegelsteinen. Da standen wir, eine Menge
kleiner Russenjungen. Es war genauso wie in dem Film über die sieben Zwerge. Aber die arbeiteten in einem Bergwerk, meine ich mich zu
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