Der sterbende Detektiv - Roman
Abendspaziergang und fand den Kläger wenig später. Da saß er mit Nasenbluten auf dem Bürgersteig. Sie riefen die Notrufnummer an. Die erste Streife war fünf Minuten später dort. Die Ambulanz kam wenig später.«
»Überwachungskameras?«
»Fehlanzeige. Jedenfalls nicht dort, wo es passiert ist.«
»Wie geht es dem Opfer?«
»Er durfte das Krankenhaus bereits gestern Abend wieder verlassen, nachdem man ihn dort verarztet hatte. Bruch des Nasenbeins. Aber nicht weiter schlimm. Kennst du den Betroffenen? «
»Wen?«
»Den Kläger.«
»Welchen Kläger?«, sagte Johansson.
»Ich verstehe«, sagte Toivonen. »Pass auf dich auf.«
Was soll ich jetzt damit anfangen?, dachte Johansson.
83
Montagabend des 16. August 2010
Am Abend führte Lars Martin Johansson, 67, ein über einstündiges Gespräch mit Maxim Makarov, 23. Ein persönliches Gespräch, in dem Max von fast unaussprechlichen Ereignissen in seinem Leben berichtete. Das Ganze hatte vollkommen unschuldig mit dem Versuch begonnen, einen einfachen, menschlichen Kontakt herzustellen. Vielleicht hatte er auch nur etwas über ernste Dinge scherzen wollen.
Johansson bat Max darum, ihm einen Tee zu kochen. Einen Russen oder eine Russin darum zu bitten, Tee zu kochen, war unbedenklich. Tee, wie ihn Johansson mochte, nicht diese englische Brühe. Russischen Tee. Dann nahmen sie im Arbeitszimmer Platz, und Johansson erzählte, dass man Nilsson offenbar nicht nur die Nase eingeschlagen und anschließend das Blut abgewischt hatte, auf eine Art, die seinem Selbstbewusstsein kaum zuträglich gewesen sein konnte, sondern dass er außerdem auch beraubt worden sei – Geldklammer, Geld, Armbanduhr, eine Goldkette und der Ring seines linken kleinen Fingers.
»Er lügt«, sagte Max. »Eine Goldkette trug er nicht. An den Ring und die Uhr erinnere ich mich.«
»Ich glaube Ihnen«, sagte Johansson. »Außerdem passt die Beschreibung der Täter auch nicht auf Sie. Es soll sich um
zwei, möglicherweise drei gehandelt haben, die Ihnen alle nicht sonderlich ähnelten, wenn ich es richtig verstanden habe.« Inzwischen müsste er auch seiner Versicherung Mitteilung gemacht haben, dachte er.
»Ich mag Leute wie ihn nicht.«
»Ich bin froh, dass Sie ihn nicht totgeschlagen haben«, sagte Johansson.
»Ihretwegen, er durfte Ihretwegen am Leben bleiben, Chef.«
Der Junge wirkt vollkommen abwesend, dachte Johansson.
»Erzählen Sie mir von diesem Kinderheim, in dem Sie gewesen sind«, meinte Johansson. »Manchmal ist es eine gute Idee, etwas Dampf abzulassen. Außerdem bleibt alles unter uns.«
»Okay«, sagte Max.
Es war das Jahr 1993. Maxim Makarov war sechs Jahre alt geworden und hatte gerade seinen Halt im Leben verloren. Seine Großmutter war gestorben, und er war allein. Es gab keinen Angehörigen, der ihm zu essen und ein Bett zum Schlafen hätte geben können. Keine Hand eines Erwachsenen, in die er trostsuchend die seine hatte legen können. Blieb nur das Kinderheim, das ein Zuhause für ihn und solche wie ihn war.
Die alte klassizistische Stadt Sankt Petersburg an der Mündung der Newa an der Finnischen Bucht, fünf Millionen Menschen zusammengepfercht auf einem Gebiet, das nur ein Drittel so groß war wie Stockholm. Die Parteioffiziere des Sowjetstaates mit ihrer relativen Ordnung, die nun den gierigen, sich bekämpfenden Kapitalisten übergeben worden war. Die Akteure waren im Großen und Ganzen dieselben.
Alle gewöhnlichen Menschen litten. Löhne und Renten
wurden zu spät oder gar nicht ausbezahlt. Plötzlicher Überfluss an Waren, die sich nur noch sehr wenige leisten konnten. Ständig steigende Preise für Brot und Kartoffeln und alles andere, womit sich der Magen füllen ließ. Kriminalität, die auf Sturmstärke anwuchs. Ein neues Lumpenproletariat, das Straßen und Plätze zu seinem Zuhause machte. Keine Mannschaftswagen der Polizei mehr, die pünktlich jeden Vormittag und Abend eintrafen und alles in die Ausnüchterungszellen der Volksrepublik schafften. Die die Obdachlosen zu Wasser, wässriger Suppe, Brot und einen Eimer, in den sie sich erbrechen, pinkeln und scheißen konnten, einluden. Der sowjetische Wohlfahrtsstaat hatte aufgehört zu existieren und war vom freien Unternehmertum abgelöst worden.
Das galt auch für alle wie Max, alle Kinder, die auf sich allein gestellt waren und denen die Hand eines Erwachsenen fehlte, der sie durchs Leben führen könnte. Stattdessen das Kinderheim. Hier gab es zumindest dreimal am Tag etwas zu essen,
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