Der sterbende Detektiv - Roman
Johansson. »Eine Neunjährige, die vergewaltigt, erwürgt und dann in der Nähe von Sigtuna vergraben wurde. Yasmine Erdogan.«
Jarnebring sah ihn erstaunt an.
»Warum willst du das wissen?«, fragte er.
»Das ist jetzt egal«, erwiderte Johansson. »Darüber sprechen wir später«, fügte er dann noch beschwichtigend hinzu. »Erinnerst du dich an den Fall?«
»Ja«, sagte Jarnebring und nickte.
»Erzähl«, forderte ihn Johansson auf.
»Yasmine Ermegan hieß sie. Nicht Erdogan. Ermegan. Hier die Kurzfassung. Sie stammte aus dem Iran. Ihre Eltern und sie kamen nach Schweden, als sie nur ein paar Jahre alt war. Sie verschwand aus der Wohnung ihrer Mutter in Solna am Abend des 14. Juni 1985, einem Freitag. Sie wurde eine Woche später gefunden, im Übrigen am Mittsommerabend, am Freitag, den 21. Juni. Man hatte sie nicht erwürgt, sondern erstickt. Laut Gerichtsmediziner wahrscheinlich mit einem Kissen. Er fand nämlich eine Daunenfeder und einige weiße Fasern in ihrem Rachen. Die Leiche war in insgesamt vier schwarze Müllsäcke verpackt, die mit normalem Paketklebestreifen umwickelt waren. Der Täter hatte sie ein paar Kilometer nördlich von Skoklosters Slott ins Schilf in einer Bucht des Mälarsees geworfen. Sie war also nicht vergraben, sondern dort abgeworfen worden. Der Fundort ließ sich mit einem Fahrzeug erreichen. Der Täter brauchte sie nur neun Meter weit zu tragen, und das hätten vermutlich die meisten geschafft, da sie nicht mehr als dreißig Kilo wog.«
»Woher weißt du das?«, fragte Johansson. Wie kann Jarnebring das wissen, und ich erinnere mich an nichts?, überlegte er.
»Das war mein Fall«, antwortete Jarnebring. »Es ist also nicht so merkwürdig, dass ich so viele Informationen kenne.
Ich weiß alles über den Mord an der kleinen Yasmine. Es gibt nur eines, was ich darüber nicht weiß.«
»Und das wäre?«, fragte Johansson, obwohl er die Antwort bereits kannte.
»Wer das arme kleine Mädchen ermordet hat«, antwortete Jarnebring. »Mit diesem Schwein würde ich gerne mal ein paar Worte wechseln.«
12
Mittwochnachmittag des 14. Juli 2010
»Jetzt musst du erzählen«, sagte Jarnebring und biss herzhaft in einen der Äpfel, die er Johansson gerade mitgebracht hatte. »Warum interessierst du dich für einen Mord, der fünfundzwanzig Jahre zurückliegt? Willst du etwa wieder in den Dienst zurückkehren?«
»Nein, wirklich nicht. Eine, die hier arbeitet, hat mich nach etwas gefragt, was sie in der Zeitung gelesen hat, und da merkte ich, dass ich keine Ahnung hatte, wovon sie eigentlich sprach. Das war kein angenehmes Gefühl, denn an solche Dinge erinnere ich mich doch sonst immer.«
»Das ist nicht weiter merkwürdig«, meinte Jarnebring grinsend. »Du warst damals bei der Reichspolizeibehörde so überhäuft mit Akten, dass du nichts mitgekriegt hast.«
»Ach so«, sagte Johansson.
»Okay«, sagte Jarnebring und zuckte mit seinen breiten Schultern. »Ich bin zwar kein Arzt, aber es hat vielleicht mit dem zu tun, was dir gerade zugestoßen ist. Ist dir dieser Gedanke noch nicht gekommen? So ein Schlaganfall kann wirklich einiges anrichten. Ich erinnere mich noch an meinen Vater. Der erkannte plötzlich niemanden aus der Familie wieder. Verbrachte die letzte Zeit damit, zu heulen oder lauthals über alles und alle zu lachen. Er war nicht wiederzuerkennen.«
»Bei mir sind es eher Flecken«, meinte Johansson. »Gewisse Flecken im Kopf sind ganz weiß«, verdeutlichte er. »Aber an diese Sache hätte ich mich trotzdem erinnern müssen. Die Zeitungen müssen damals voll davon gewesen sein. An den Mord an Helene Nilsson in Hörby im Jahre 1998 kann ich mich beispielsweise noch bis ins Detail erinnern.«
»Nein«, meinte Jarnebring und schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Es war ganz anders als bei Helene. Über sie stand hundertmal mehr in den Zeitungen als über Yasmine. In der ersten Woche nach Yasmines Verschwinden war keine Zeile in den Zeitungen zu lesen. Es wurde auch nichts im Fernsehen oder im Radio gebracht.«
»Wie kann das sein?«, fragte Johansson. »Eine Neunjährige, die an einem Freitagabend von zu Hause verschwindet – da müssen doch alle nach ihr gesucht haben!«
»Es geschah im Großen und Ganzen überhaupt nichts«, sagte Jarnebring. »Die Eltern hatten sich ein paar Jahre zuvor getrennt. Yasmine wohnte wochenweise bei ihrem Vater und seiner neuen Frau in Äppelviken und bei ihrer Mutter in Solna. Die Mutter wohnte übrigens allein. In jener Woche hätte
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