Der Stern von Yucatan
dem er sich die Hand verletzte. Er hatte einen ihrer mexikanischen Hilfskräfte vor dem Angriff zweier mit Messern bewaffneter Diebe geschützt. Seine dramatische Erzählung ließ sie schaudern.
Lorraine mochte Jason. Es war unmöglich, ihn nicht zu mögen. Er war witzig und fröhlich und sehr hilfsbereit. Einmal kaufte er Melonenscheiben von einem Straßenhändler und teilte sie mit ihr. Lorraine war eigentlich nicht hungrig, doch die Frucht stillte ihren aufkommenden Durst.
Sie hatte sich noch nie so rasch mit jemand angefreundet. Vermutlich reagierte jeder so auf Jason. Sein offenes, freundliches Wesen förderte Vertrauen und Kameradschaft.
Dicke Abgaswolken hinter sich lassend und mit mahlendem Getriebe fuhr der Bus endlich an der Haltestelle vor. Jason hatte nicht übertrieben mit seiner Warnung vor dem möglichen Zustand des Gefährts. Das Klappergestell von einem Fahrzeug sah aus, als sei es mindestens seit dem Zweiten Weltkrieg auf der Straße. Seine Farbe war nicht mehr zu ergründen, und die Hälfte der Fenster fehlte. Bei dieser Hitze war das allerdings eher ein Segen.
Der Bus war eine Sache, ihre Mitreisenden eine zweite. Sobald der Bus in den Hof rollte, strömten Menschen aus allen Richtungen auf ihn zu. Erwachsene und Kinder mit Hühnern in Käfigen. Ein Mann hatte sich sogar ein Schwein unter den Arm geklemmt.
“Steigen Sie ein, und reservieren Sie uns den besten Sitz, den Sie bekommen können”, riet Jason und schob sie auf den Bus zu. “Ich vergewissere mich, dass unser Gepäck an Bord kommt.”
Lorraine beobachtete erstaunt, wie zwei Männer auf das Dach des Busses stiegen und darauf warteten, dass Jason und ein zweiter Mann ihnen die Gepäckstücke zuwarfen. Sie beneidete niemand um die Aufgabe, Koffer zu heben, schon gar nicht, wenn sie auch noch zweieinhalb Meter in die Höhe geworfen werden mussten.
Nach etwa zehn Minuten kam ein atemloser Jason an Bord und ließ sich auf den Sitz neben ihr fallen.
“Sie erwähnten, dass Sie an einen Ort in der Nähe von El Mirador wollten”, sagte Lorraine, sobald er wieder zu Atem gekommen war.
“Ich bin unterwegs zu einer zweiten Ausgrabungsstätte”, erklärte er und rückte ein wenig, um ihr mehr Platz auf dem engen Sitz zu geben, der so schmal war, dass er kaum Platz für einen Erwachsenen, geschweige denn für zwei bot.
Er hatte ihr zuvor ein wenig über Maya-Ruinen erzählt, und sie fand es faszinierend.
“Es gibt eine Ausgrabung in der Nähe von El Mirador?” Sie hatte in der Bibliothek und im Internet über die kleine Küstenstadt nachgeforscht, jedoch nichts in der Art gelesen. El Mirador hatte weniger als tausend Einwohner. Die Wirtschaft der meisten Küstenorte hing vom Fischfang ab, was nur natürlich war. Aber viel mehr gab es nicht zu berichten. Sie konnte sich nicht erinnern, etwas von Maya-Ruinen in der Nähe gelesen zu haben, doch das musste nichts heißen.
“Unser El Mirador wurde nach einem anderen El Mirador in Guatemala benannt”, erläuterte Jason. “Dort war eine wichtige Maya-Ansiedlung, eine der ersten. Aber es gibt auch hier einen Maya-Tempel, einige Meilen von El Mirador entfernt. Er wurde erst vor einigen Jahren entdeckt, und man hat gerade mit den Ausgrabungen begonnen. Deshalb wollte ich ein paar Wochen dort bleiben, ehe ich nach Hause zurückkehre.”
“Zu Hause ist in Missouri, richtig?”
“In Jefferson City. Und was ist mit Ihnen? Warum reisen Sie nach El Mirador? Die Stadt ist ja nicht gerade eine Touristenhochburg.”
Lorraine ließ sich Zeit mit der Antwort und fragte sich, wie viel sie Jason erzählen sollte. Sie kannte ihn gerade mal eine Stunde. Zugegeben, sie hatten sich fast augenblicklich angefreundet, und trotzdem … Derart persönliche Auskünfte teilte man gewöhnlich nicht mit Menschen, die man gerade kennen gelernt hatte.
“Mein Vater lebt dort”, sagte sie ohne weitere Erklärungen.
“In El Mirador?” Jason wirkte erstaunt. “Was macht er dort?”
“Er ist Lehrer.”
“Im Friedenscorps?”
Lorraine blickte aus dem Fenster. Angesichts ihrer Nervosität vor dem Treffen mit ihrem Vater sollte sie dankbar sein, mit jemand reden zu können. Impulsiv entschied sie sich, Jason in die ganze Geschichte einzuweihen. Er hatte ihr zweifellos einiges aus seinem Leben erzählt, und sie hatte das Gefühl, ihm trauen zu können. Sie atmete tief durch und begann.
“Um ehrlich zu sein, Jason, ich weiß es eigentlich nicht. Ich habe ihn seit meinem dritten Lebensjahr nicht mehr gesehen.
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