Der Stern von Yucatan
ein Junge wurde, wie die ersten beiden.
Er liebte seine Kinder, war ihnen von Herzen zugetan und verwöhnte sie, wenn man Azucena glauben durfte. Wegen Antonio und Hector erkannte er, wie viel er bei seiner Tochter versäumt hatte. Raine war inzwischen erwachsen, aber in seinen Gedanken blieb sie das Kind. Sie war noch so klein gewesen, als er damals ging! Ginny hatte ihm bei ihren Besuchen Fotos mitgebracht. Das letzte war ein Schulfoto gewesen, das eine Achtjährige mit Zahnlücke und Zöpfen zeigte.
Es klopfte. “Ich entschuldige mich für die Störung”, sagte einer der älteren Schüler auf Spanisch und kam ins Klassenzimmer. “Ein Mann möchte Sie sprechen.”
“Hat er seinen Namen genannt?”
“Jack Keller.”
Thomas musste unwillkürlich lächeln. “Sag ihm, ich komme gleich raus.” Eigentlich hatte er wenig gemein mit dem ehemaligen Geheimagenten, doch es war immer erfrischend, Zeit mit einem anderen Amerikaner zu verbringen. Jack kam nicht allzu häufig, aber er brachte stets Neuigkeiten aus der Heimat und der Welt mit. Auf der Negativseite stand, dass er manchmal ein übles Mundwerk hatte und immer ein Auge für ein hübsches Gesicht. Beides war jedoch leicht zu verzeihen. Jack war einem Mann, der wenig Freunde hatte, ein guter Freund.
Thomas schob die Klassenarbeiten in seine Aktentasche und ging ins Schulbüro. Jack saß lässig auf einem altersschwachen Schreibtischstuhl und blätterte in einem alten Magazin vom letzten Jahr. Er sah heruntergekommen aus. Am nötigsten brauchte er wohl einen Haarschnitt, aber dafür würde Azucena vermutlich sorgen. Das sonnengebleichte braune Haar hing ihm bis auf die Schultern. Außerdem hatte er sich offensichtlich zwei bis drei Tage nicht rasiert. Seine Jeans waren in halber Beinlänge abgeschnitten, die Ränder ausgefranst, und er trug Tennisschuhe ohne Socken.
“Jack!”, begrüßte Thomas ihn begeistert und streckte ihm die Hand hin.
“He, Thomas.” Jack warf das Magazin beiseite und sprang auf. Er ergriff fest Thomas’ Hand und schlug ihm in einer Freundschaftsgeste auf die Schulter.
“Du siehst langsam aus wie ein alter Seebär”, bemerkte Thomas.
“Na ja, du siehst auch nicht übel aus. Bist du schon wieder stolzer Papa?”
“Das Baby kann jeden Tag kommen.” Es bereitete ihm Sorgen, dass es keine medizinischen Einrichtungen in der Nähe von El Mirador gab. Nicht dass Azucena ihr Baby woanders als zu Hause und mit Hilfe einer Hebamme bekommen hätte. Doch seltsamerweise war er diesmal beklommener, obwohl bei den ersten beiden Geburten alles glatt gegangen war.
“Hast du Zeit für ein kühles Bier?”, fragte Jack.
“Natürlich.” Thomas würde Azucena durch einen Schüler von Jacks Besuch benachrichtigen lassen. Natürlich würde sie darauf bestehen, dass Jack zum Dinner zu ihnen kam. Nicht nur, weil sie ihn sehr mochte. Es war eine Frage des Stolzes für sie, dass sie ihren Gast bewirtete wie einen Fürsten. Es würde einen Riesenkrach geben, falls Thomas Jack nicht mitbrachte.
Thomas gab Alfonso entsprechende Anweisungen und schlenderte mit Jack zur Cantina unten am Wasser. Sie hatten sich kaum gesetzt und einen Schluck Bier getrunken, als Alfonso atemlos angerannt kam.
“Señor Dancy!”, rief er, “Señor Dancy!”
“Was ist denn?” Thomas dachte sofort an Azucena.
“Da ist eine Frau in der Schule und fragt nach Ihnen”, platzte Alfonso heraus.
“Eine Frau?” Thomas ignorierte Jacks hochgezogene Brauen.
“
Sí.
Sie sagt, ihr Name ist Lorraine Dancy. Sie sagt, sie ist Ihre Tochter.”
4. KAPITEL
L orraine war zu nervös, um still sitzend auf ihren Vater zu warten. Während sie unruhig auf dem Schulflur auf und ab ging, machten ihre Absätze laute Geräusche auf dem Steinfußboden. Ein gerahmtes Dokument an der Wand, in Englisch und Spanisch, verriet ihr, dass die Schule finanziell von einer Gruppe texanischer Kirchen unterstützt wurde. Danach waren die Namen des Schulleiters und dreier Lehrer aufgeführt. Und es wurde erklärt, dass die Schuluniformen von der
Women’s Missionary Society
genäht worden waren.
Lorraine las das Dokument zweimal und ging dann wieder auf und ab. Sie war vor einer halben Stunde in El Mirador angekommen. Es war jetzt sechs. Sie hatte gewusst, dass die Chancen, Thomas Dancy so spät am Nachmittag noch in der Schule anzutreffen, nicht besonders groß waren. Jason hatte sie zu überreden versucht, ebenfalls ein Zimmer im Hotel zu nehmen, doch sie hatte lieber erst die Schule
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