Der Stern von Yucatan
Man hatte mir gesagt, er sei an Leukämie gestorben. Ich habe erst vor einem Monat herausgefunden, dass er noch lebt. Seit ich das erfuhr, war mir klar, dass ich ihn aufsuchen muss. Mein Verlobter denkt, ich sei durchgeknallt, vielleicht hat er sogar recht. Ich weiß es nicht.” Dann erzählte sie Jason vom Tod ihrer Mutter, von dem Brief in ihrem Nachlass aus dem Banksafe und von Gary.
Jason brauchte einen Moment, das alles aufzunehmen. “Weiß Ihr Vater, dass Sie kommen?”
“Ja, natürlich”, erwiderte sie und hatte Mühe, nicht trotzig zu klingen. Dann seufzte sie und gestand: “Ich bin mir nicht sicher.” Da er nicht in Mérida gewesen war, um sie vom Flugzeug abzuholen, wusste sie nicht mehr, was sie erwarten sollte.
“Aber Sie hatten Kontakt mit ihm?”
“Ja, natürlich.” Auf Garys gleichlautende Frage hatte sie sauer reagiert. Jason jedoch schien aufrichtig interessiert und besorgt, wohingegen Gary nur beharrlich und übermäßig beschützend gewesen war. “Ich habe angerufen und eine Nachricht in der Schule hinterlassen. Aber er hat nicht zurückgerufen. Als ich nichts von ihm hörte, habe ich einen Brief geschickt. Ich hatte gehofft, er würde am Flugplatz auf mich warten, aber da war er nicht.”
“Wann haben Sie den Brief abgeschickt?”
“Anfang letzter Woche.”
Jason schüttelte den Kopf. “Ich sage Ihnen das nicht gern, aber dann hat er ihn wahrscheinlich noch gar nicht bekommen. Die Post …”
Genau in dem Moment fuhren sie durch ein Schlagloch. Der Bus machte einen heftigen Satz, und Jason und Lorraine hüpften geradezu in die Höhe. Ihr prallten die Zähne aufeinander, die sich anfühlten, als hätten sie sich gelockert. Sie hörte Jason aufschreien, als er mit dem Kopf gegen das Dach stieß. Das Schwein entkam seinem Besitzer und rannte quiekend in den hinteren Teil des Busses. Ungerührt von dem Durcheinander verlangsamte der Fahrer nicht mal das Tempo.
Nach ein paar Minuten hatte sich alles wieder beruhigt, und Jason beendete seinen Satz. “Die Post in diesem Teil der Welt ist berüchtigt langsam.”
“Ach du liebe Güte.”
“Sie sollten besser davon ausgehen, dass Ihr Vater keine Ahnung von Ihrem Besuch hat”, warnte er sie.
Seine Worte wirkten ernüchternd. Sie war dreizehnhundert Meilen gereist, die letzten davon unter entsetzlichen Bedingungen. Und nun hatte sie auch noch Grund zu der Annahme, dass ihr Besuch ihren Vater völlig überraschen würde.
Seit jener Nacht, als der Traum ihn weckte, hatte Thomas Dancy nicht mehr aufgehört, an Ginny zu denken. Er vermutete, dass das mehr mit Azucena und ihrem Zustand zu tun hatte als mit Ginny. Jeden Tag konnte jetzt ihr drittes Kind zur Welt kommen.
Er hatte sich nicht in Azucena verlieben oder gar eine neue Familie gründen wollen. Aber abgesehen von seinen anderen Fehlern war er auch noch schwach. Zu schwach, um einer zweiten Chance auf Liebe und Leben zu widerstehen. Für gewöhnlich gab er sich nicht diesen gelegentlichen Anfällen von Reue und Selbstverachtung hin. Dafür war er zu realistisch. Doch manchmal, so wie heute, ließen ihn die Gedanken an sein früheres Leben nicht los.
Er saß an seinem Schreibtisch im leeren Klassenzimmer und starrte auf die Klassenarbeiten, die er benoten sollte. Doch seine Gedanken verweilten bei Ginny und seiner Tochter. Es belastete ihn, dass er das Versprechen gebrochen hatte, das er einst in Liebe gab. Er hatte Ginny immer treu sein wollen. In den ersten Jahren nach seiner Flucht nach Mexiko hatten sie sich noch an vereinbarten Zielen in Mexico City oder Veracruz getroffen. Er hatte für diese wenigen gemeinsamen Tage gelebt. Dann war Raine in die Schule gekommen, und Ginnys Besuche waren seltener geworden, bis sie schließlich ganz aufhörten.
Doch ihm lag noch mehr auf der Seele als Schuldgefühle und Reue. Er machte sich Sorgen um Azucena und das Baby. Er war jetzt fünfzig und erst seit acht Jahren mit ihr zusammen. Manchmal glaubte er, ein Recht darauf zu haben, sich so viel Glück zu nehmen, wie er bekommen konnte. Glück, das Azucena ihm bot. Oft hingegen betete er, Ginny möge nie von seiner Schwäche für diese so viel jüngere Frau erfahren.
Er hatte keine Kinder mehr gewollt, aber Azucena war unnachgiebig gewesen und hatte sich nach einem weiteren Baby gesehnt. Sie hatte ein liebevolles, großzügiges Herz, und er konnte ihr nichts verweigern, nach allem, was sie für ihn getan hatte. Bald würden sie also drei Kinder haben, und er fragte sich, ob es wieder
Weitere Kostenlose Bücher