Der Stern von Yucatan
ohnmächtig geworden war? Wenn er verletzt war und ihr keine Nachricht zukommen lassen konnte? Vielleicht war er im Gefängnis? Oder im Leichenschauhaus. Die Anzahl wenig erbaulicher Möglichkeiten nahm wieder zu.
Als sie schon befürchtete, den Verstand zu verlieren, hörte sie Stimmen. Leise zuerst, dann lauter und deutlicher. Sie lauschte aufmerksam und hörte, dass zwei, vielleicht drei Männer Spanisch miteinander sprachen. Sie waren auf dem Steg, gleich neben dem Boot. Bereits eine Minute später schwankte das Boot, und es erklangen Schritte an Deck.
Konnte Jack bei ihnen sein?
Sie wollte schon rufen und nachfragen, als sie sich erinnerte, dass Jack darauf bestanden hatte, sie solle unter Deck bleiben, bis er sie ausdrücklich aufforderte heraufzukommen. Dann, und nur dann sollte sie sich zeigen.
Sie konnte nicht genau unterscheiden, wie viele Personen an Bord waren, zwei Männer oder mehr. Es war schwierig, die Stimmen auseinanderzuhalten. Die meiste Zeit schienen zwei miteinander zu reden, doch sie war fast sicher, die Schritte eines Dritten zu hören. Die zwei, die miteinander redeten, schienen zu streiten.
Jemand rüttelte an der Tür, die zu ihr hinunter führte. Lorraine erstarrte und beglückwünschte sich, dass sie die Tür zuvor verriegelt hatte.
Der Streit eskalierte. Die Argumente flogen hin und her, doch so weit sie es dem Tonfall entnehmen konnte, fiel keine Entscheidung.
Sie lauschte und wartete. Oben gab es Bewegung. Das Boot schwankte mehrfach, als die Männer zwischen Deck und Steg hin- und herpendelten. Sie hörte, wie schwere Kisten oder Container abgestellt wurden. Offenbar trug man die Vorräte an Bord. Eine Frage blieb allerdings. Wo steckte Jack?
Dann war plötzlich Stille. Trotzdem glaubte sie nicht, dass die Leute das Boot verlassen hatten. Sie atmete flach und lauschte angestrengt. Nach einer Weile hörte sie, wie Flaschen geöffnet wurden. Offenbar hatten sie Jacks Biervorrat entdeckt und bedienten sich.
Das Boot neigte sich stark auf eine Seite, als die Männer herunterstiegen und über den Steg davontrotteten. Ihre lauten Stimmen wurden allmählich leiser.
Lorraine wusste nicht, was schlimmer war, die Ungewissheit über Jacks Schicksal oder das Warten. Schwach und desorientiert, wie sie sich fühlte, legte sie den Kopf auf den Tisch und schloss die Augen.
Vielleicht war sie kurz eingeschlummert, aber sie glaubte es nicht. Als Nächstes hörte sie wieder Schritte, aber nur von einem Menschen.
Jack!
Erleichtert richtete sie sich ruckartig auf. Alles war in Ordnung. Er war wieder da. Fast augenblicklich wandelte sich ihre Erleichterung in Zorn. Sie so lange hier schmoren zu lassen, war eine ausgemachte Gemeinheit. Er hatte das absichtlich getan, dessen war sie sicher. Er bestrafte sie für ihren Ungehorsam in La Ruta Maya.
Jedenfalls würde sie Jack sehr genau sagen, was sie von ihm hielt. Wenn sie mit ihm fertig war, würde er wirklich froh sein, sie loszuwerden – aber noch mehr würde sie sich freuen, ihn loszuwerden.
Sie öffnete die Tür, verharrte einen Moment, um tief durchzuatmen, und kletterte hinauf. Entschlossenen Schrittes ging sie über das Deck und hörte im Hintergrund das zufriedene Tuckern der Zwillingsmotoren. Dieser Neandertaler hatte doch tatsächlich vor, aus dem Hafen zu fahren, ohne sie aus ihrem heißen Gefängnis zu befreien! Warum überraschte sie das? Es passte zu seinem bisherigen Verhalten.
“Sie haben ja lange genug gebraucht!”, fuhr sie ihn an und verschluckte fast ihre Zunge vor Schreck.
Nicht Jack war an Bord gekommen, sondern Carlos.
Lorraine japste und erinnerte sich zu spät, dass sie die Waffe unter Deck gelassen hatte.
Gary Franklin war besorgt. Er hatte nichts von Lorraine gehört, seit sie diesen verrückten Trip nach Mexiko angetreten hatte. Wie er das sah, war das Ganze eine äußerst merkwürdige Angelegenheit. Sie war so darauf erpicht gewesen, alles über ihren Vater zu erfahren, dass sie alle Warnungen in den Wind geschlagen hatte.
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hätte Lorraine seinen Rat befolgt. Aber seit dem Tod ihrer Mutter war alles anders zwischen ihnen. Jetzt glaubte er manchmal, sie überhaupt nicht zu kennen. Er versuchte, Geduld mit ihr zu haben, aber das wurde zunehmend schwieriger. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie sich völlig in sich selbst zurückgezogen und die Welt ausgesperrt – ihn eingeschlossen. Das tat ganz schön weh.
Er hatte sie trösten, sie in den Armen halten und ihr über die
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