Der Sternengarten: Historischer Roman (German Edition)
lauerten seine Augen in dunklen Höhlen, als wäre ihm die Welt niemals freundlich begegnet. Und so war es wohl auch: Das Leben des Viehhändlers war ein ständiger Kampf – gegen die Umstände, die Willkür der Herrscher und die Launen einer gnadenlosen und widerspenstigen Natur. Dennoch begriff Christian nicht, wie die Männer die Kälte des Viehhändlers ertrugen und warum sie vor ihm kuschten wie eine kopflose Herde Schafe. Sogar sein Vater begehrte nicht auf. Erschrocken hatte Christian bemerkt, dass dieser sich nach dem Tod der Mutter in einen in sich gekehrten, von der Welt abgewandten Zweifler verwandelt hatte.
Nein, dachte der Junge, an den Männern lag es nicht, dass er sich vor dem Ende des Treibens fürchtete. Sie waren ihm fremd geblieben. Doch Abschied von den Tieren nehmen zu müssen, deren Gesellschaft die Sehnsucht nach seiner Schwester zwar nicht verdrängt, aber doch betäubt hatte, konnte sich Christian nicht vorstellen.
Sophie … Beim Gedanken an die Schwester lächelte Christian. Der Sack in seinen Händen füllte sich mit Reisig und toten Ästen, doch vor seinem inneren Auge sah er, wie sie ihn aus der Ferne grüßte. Wenn Sophie bei ihm wäre, würde sie sich jetzt in einem Wettkampf mit ihm messen und gewiss hätte sie ihren Sack zuerst gefüllt und triumphierend zur Feuerstelle zurückgetragen. Christian dachte, dass Sophie den Männern wohl auch eine größere Hilfe wäre, als er es sein konnte. Sie war mutig, viel geschickter und lebhafter als der Bruder – in allem, was sie tat. Sie war selbstbewusst, unbefangen und eigensinnig, schien schneller zu denken, einer inneren Stimme zu folgen und besaß ein Urvertrauen in die Welt. Sie war sein freundlicher Schatten: Jede Gefahr, jedes Unwetter sah sie zuerst heraufziehen. Und wenn Sophie meinte, dass er nicht achtgab, schob sie ihm großzügig das größere Stück Brot auf den Teller.
Christian liebte seine Schwester und er meinte, ihre Gedanken hören zu können. Sophies Liebe stärkte ihn, doch auf dem Viehtrieb und in der Gesellschaft der mächtigen Ochsen hatte er zum ersten Mal gedacht, dass er auch ohne ihren Rückhalt bestehen könnte. Er hatte zu sich gefunden.
Wie würde es sein, nach Schleswig zurückzukehren? Christian malte sich aus, wie er ihr von seinen Erlebnissen berichtete, von der Welt jenseits der Schlei. Unterwegs hatte er vieles über die großen Ochsentriften erfahren, die in jedem Frühjahr durch Jütland und Flensburg, durch Oeversee, Lürschau, Schleswig und Rendsburg nach Süden zogen. Über schimmerndes Kopfsteinpflaster und durch Dünen, durch Eichkrattwälder, Auenlandschaften und Furten wurden die Tiere in großen und kleinen Herden auf die Märkte nach Bramstedt, Itzehoe und Wedel an die Elbe getrieben. Von dort verkaufte man sie in die großen Städte, sogar bis in die Rheinlande und nach Holland.
»Der Ochsenweg ist die wichtigste Verkehrsstraße im Norden«, hatte sein Vater ihm erklärt. »Er verläuft zwischen der Geest im Osten und dem Marschland im Westen und folgt über weite Strecken der Wasserscheide.«
Wohl bis zu fünfzigtausend Ochsen wälzten sich Jahr für Jahr durch die Herzogtümer. Dafür mussten die Händler dem dänischen König Ausfuhrzoll zahlen. Der Herzog von Schleswig-Gottorf und der Graf von Holstein-Schaumburg kassierten Durchfuhrzoll. Und schließlich verlangte die Stadt Hamburg bei der Einfuhr Consummations-Akzise oder bei der Durchfuhr Elbzoll.
Christian dachte, dass er nachts auf seinem Strohsack und an der Seite der Schwester heimlich davon träumen würde, auch den nächsten Viehtrieb begleiten zu dürfen, dass er an den Herausforderungen und Abenteuern wachsen wollte.
In den vergangenen Tagen hatten die Männer gerätselt, wann sie endlich durch Schleswig marschieren würden, um dort einen Teil der Ochsen zu verkaufen. Immer wieder hatte sie der Viehhändler auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet.
»Die Ochsen brauchen noch einen Tag Ruhe«, hatte Ossen-Schröder etwa behauptet. »Sie sollen sich noch ein wenig rund saufen.« Tatsächlich waren die Tiere vom langen Treiben geschwächt und mehr Knochen als Fleisch.
»Heute ist es zu heiß zum Treiben«, hieß es am nächsten Morgen.
Inzwischen hatten die Männer begriffen, dass der Viehhändler nicht mit der gesamten Herde durch Schleswig marschieren wollte. Ossen-Schröder hatte seine Pläne geändert.
Auf Schleichwegen waren sie um die Stadt herum gezogen und warteten nun im Süden auf einen Mittelsmann, der
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