Der Sternengarten: Historischer Roman (German Edition)
und dann ein Schmerz, wie sie ihn seit Caspars Geburt nicht mehr erlebt hatte. Etwas Mächtiges rammte sich durch ihren Körper und während sie noch dachte, dass sie diesen Schmerz nicht aushalten könnte, trug eine Ohnmacht sie davon.
DREI
»Sophie …«
Sie kannte diese Stimme. Ein warmes Gefühl überlagerte den Schmerz. Doch sie kam nicht an gegen die Dunkelheit. Denn die nächtliche Schwärze war verführerisch und umhüllte sie mit ihren samtenen, tröstlichen Schwingen. Sophie dachte an den Raben, an den schillernden Glanz seines Federkleides. Was war aus ihm geworden?
»Sophie …«
Eine Berührung, ganz kurz. Etwas strich über ihre Wange, küsste sie flüchtig. Sie konnte sich nicht bewegen.
Wieder ließ sie sich in die Dunkelheit zurücksinken, ließ sich von ihr wiegen, trösten, als läge sie in einem himmlischen Bett.
»Du kannst alles vergessen«, flüsterte ein anderes Stimmchen ihr von einem fernen Ort zu. »Du wirst nie wieder leiden müssen.«
Du kannst alles vergessen. Alles wäre ungeschehen, ihr Leben ein unbeschriebenes Blatt. An welchen Punkt ihres Daseins könnte sie zurückkehren? Plötzlich sah sie sich unter einem Apfelbaum in einem Garten liegen. Sie hielt Melissa im Arm, ein winziges Wesen noch. Eine mächtige Kraft schien bei ihr zu sein. Sie fühlte sich geliebt und beschützt.
War alles nur ein Traum gewesen?
Du kannst alles vergessen. Doch dann fiel ihr ein, dass sie auch das Gute vergessen würde, das Schöne in ihrem Leben. Die Gärten, Farid und Caspar, das Gefühl der Liebe …
»Sophie.«
Ja, jetzt war sie sicher, Johannas Stimme zu hören. War die Freundin doch nicht tot? Angestrengt versuchte Sophie, die Dunkelheit zu durchdringen.
»Du musst gehen, Sophie. Sie warten auf dich.«
»Du kannst alles vergessen, Sophie.«
Ein Widerstreit der Stimmen – sie lauschte, versuchte, eine Entscheidung zu treffen. Sie könnte die Dunkelheit wählen, das süße Vergessen, den wohligen Schlaf. Oder sie könnte sich auf den Weg zurück machen. Ein schmerzhafter, vielleicht mühsamer Weg. Plötzlich begriff sie, dass sie zwischen Leben und Tod wählen müsste.
»Sie warten auf dich.«
Johanna. Sie schien nun ganz nah zu sein, wieder spürte sie ihre Berührungen. Ihre warmen Hände legten sich auf ihren Kopf, gaben ihr Mut.
Ein Strom floss, ein Ruck schien durch ihren Körper zu gehen.
Mühsam öffnete sie die Augen.
»Sophie, endlich.«
Catharina saß an ihrem Bett, ihre Augen schwammen in Tränen.
»Wir dachten …«
Sie wischte die Gedanken mit einer Handbewegung fort.
»Es wird alles gut.«
Wo war Caspar? Sophie versuchte den Kopf zu drehen, dann merkte sie, wie der Schmerz zurückkehrte.
»Nicht bewegen, Sophie. Lieg ganz still. Du hast einen Schlag auf den Kopf bekommen. Das Eisenstück hat dich gestreift, als du, als du …«
»Caspar?«
Da war fast kein Ton in ihrer Stimme. Sie versuchte es noch einmal.
»Caspar, was …?«
Ein Flüstern nur, doch Catharina lächelte.
»Es geht ihm gut. Natürlich geht es ihm gut. Du hättest fast dein Leben für ihn gegeben. Drei Tage haben wir um dich gebangt. Komm, trink etwas.«
Behutsam führte Catharina einen Löffel an ihren Mund. Sie schmeckte etwas Süßes.
»Apfelsaft … Meister Friedrichs hat Äpfel aus dem Küchengarten bringen lassen. Sogar der Herzog hat sich nach dir erkundigt.«
»Apfelsaft …« Sophie versuchte sich, an ihren Traum zu erinnern.
»Ich habe dir immer wieder etwas davon auf die Lippen geträufelt. Ich wollte dich an die Süße des Lebens erinnern.«
»Ich habe unter einem Apfelbaum gelegen.«
Catharina beugte sich vor, um ihr Flüstern zu verstehen. Ihr Gesicht war nun so nah, dass Sophie das Leuchten darauf sehen konnte. Plötzlich wusste sie, dass Catharina wieder schwanger war.
»Und der Rabe?«
»Dieser Unglücksvogel. Bösch hat ihn eingefangen. Und den Jungen gehörig die Leviten gelesen. Er wird dir sicher davon erzählen. Jeden Morgen und jeden Abend hat er sich nach dir erkundigt.«
Catharina zwinkerte ihr jetzt verschwörerisch zu.
»Er hat sich große Vorwürfe gemacht, dass er das Unglück nicht hat verhindern können. Er ist noch auf dich zugesprungen und hat das Eisenstück zur Seite lenken können. Wenn dich die Schiene mit ganzer Wucht getroffen hätte …«
Die Freundin schüttelte den Kopf, sie schwieg. Sophie dachte für einen Moment an die Dunkelheit, die sie so verführerisch angelacht hatte.
»Der Tod war bei mir, Catharina. Er war ganz nah. Ich habe
Weitere Kostenlose Bücher