Der Sternengarten: Historischer Roman (German Edition)
Brise, die vom Wasser hinauf durch die Gassen zog.
Johanna Michels bündelte die Kräfte der Natur in ihren getrockneten Gebinden. Ampfer, Wegerich, Kamille, Schleierkraut oder Brennnessel – aus Blättern und Beeren, Wurzeln oder Rinden, die sie im Wald oder am Feldrand sammelte, trocknete und im Mörser zerstieß, fertigte sie Kräutermischungen, die gegen viele Beschwerden und Krankheiten halfen. Sogar der Bürgermeister schickte seine Magd zur Michels, wenn er einen Aufguss gegen die sauren Magensäfte benötigte, und auch viele weitere Schleswiger Bürger vertrauten dem Wissen der Kräuterfrau, das ihre Mutter und Großmutter an sie weitergegeben hatten.
Johanna half bei Geburten und kurierte Hühner, die keine Eier mehr legen wollten. Ihre Kräuter verkaufte sie zusammen mit kleinen, handgeschriebenen Zetteln, auf die sie ein Gebet oder einen Bibelspruch notiert hatte, um den Zorn der Kirche nicht auf sich zu ziehen. Noch immer gab es Hexenprozesse und heilkundige Frauen waren den Ratsherren und Kirchenmännern suspekt.
Sophie klopfte an die Tür und trat ein. Das winzige Fachwerkhaus in einer Gasse zwischen Friedhof und Schlei bestand lediglich aus einem Raum, in dem Johanna lebte und arbeitete. Ein dunkler Vorhang trennte eine Ecke, in der sie ihre Patienten empfing, vom Rest des Zimmers ab. Tisch und zwei Stühle sowie eine Truhe aus Eichenholz, Kochgeschirr und ein schmaler Wollteppich waren ihr gesamter Besitz, ein Spiegel fehlte.
Über eine schmale Leiter erreichte man eine zweite Ebene, dort schlief Johanna auf einer Matratze aus Stroh. Überall hingen getrocknete Kräuterbündel und in zahlreichen Töpfen und Leinensäckchen wurden die fertigen Mischungen und Essenzen bis zum Verkauf aufbewahrt.
Das Zimmer war leer, doch über der Feuerstelle köchelte ein Kessel mit Suppe. Sophie stieg der scharfe Geruch von Bärlauch in die Nase, die Amme musste in der Nähe sein.
»Johanna!«, rief Sophie und wiegte die Schwester, die nun lauter schrie, in den Armen.
»Im Garten …«, drang Johannas Stimme durch die dünnen Lehmwände. Sophie atmete erleichtert aus und trat aus dem dunklen Zimmer ins Sonnenlicht hinaus. Links und rechts schlossen sich die Hütten der Nachbarn an, doch hinter dem Häuschen lag noch ein Stückchen Grün, kaum größer als ein Marktstand. Ein Apfelbaum wuchs dort, er war Johannas ganzer Stolz. Im Herbst trug er duftende Früchte, unter derer süßen Last sich die Äste wie Weidenruten bogen. Johannas Apfelgelee, das sie mit Gewürzen verfeinerte, war auf dem Markt begehrt – genauso wie der Apfelwein, den sie heimlich vergor und unter der Hand verkaufte.
Wo das Sonnenlicht es zuließ, baute Johanna außerdem Kraut und Gemüse an. Drei Hühner und ein Hahn scharrten zwischen den Beeten und unter dem Apfelbaum war eine Ziege angekettet. Johanna nahm sie mit auf ihre Wanderungen in die Wälder, sie folgte ihr wie ein Hund. Nachts schliefen Ziege und Federvieh im Haus, weshalb es dort – trotz des betäubenden Kräuterduftes – mitunter etwas streng roch.
»Sophie …«
Johanna saß auf einem Holzklotz und hielt das Gesicht der Sonne entgegen. Das Licht umspielte ihren Körper wie ein blendender Schleier. Funken sprühten aus ihrem kastanienfarbenen Haar, das offen über ihre Schultern fiel. In Erwartung des Kindes hatte sie die linke Brust entblößt. Zarte Haut, weiß wie Rahm, lugte zwischen dem Tuch hervor und das Geschrei der Kleinen ließ die Milch bereits fließen. Winzige Perlen tropften auf das honigfarbene Kleid und sammelten sich dort für einen Moment, bevor der Stoff die Flüssigkeit aufsog.
Fordernd streckte Johanna die Arme nach dem Kind aus, und Sophie legte ihr die Schwester an die Brust. Fasziniert beobachtete sie, wie sich die Lippen des eben noch schreienden Bündels um die dunkle Brustwarze schlossen und das Kind gierig zu trinken begann.
»Du bist spät«, erntete Sophie einen vorwurfsvollen Blick der Amme. Entschuldigend legte das Mädchen einen Arm um Johanna und ließ sich neben ihr ins Gras sinken.
»Ich war oben am Schloss, auf dem Richtplatz.«
»Du hast dir die Hinrichtung angesehen? Aber Sophie …«
Sophie musste sich nicht zur Seite wenden, um zu wissen, dass Johanna missbilligend den Kopf schüttelte.
»Vater hätte es mir erlaubt«, verteidigte sie sich trotzig. »Ich bin alt genug.«
»Man ist nie alt genug, um dem Tod zu begegnen.«
Johanna schwieg und Sophie lehnte sich dankbar gegen ihre Beine. Sie spürte die Wärme, die von
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