Der Sternengarten: Historischer Roman (German Edition)
Johannas Körper ausging, und schloss entspannt die Augen. Schläfrig ließ sie ihre Gedanken treiben, bis sie das Bild ihrer Mutter gefunden hatte. Ein lächelndes Gesicht erschien auf dem Samtgrund der Erinnerung, Szenen ihrer Kindheit, Trost und Sehnsucht zugleich.
Sophie wusste, dass die Mutter unter einem kalten Stein auf dem Friedhof gegenüber lag, doch wenn Johanna ihre Schwester stillte, war es so, als könnte sie deren Umarmung spüren. Für einen Moment vergaß sie das Unglück, das mit der Geburt der Schwester über die Familie gekommen war. Ein kurzes, seliges Innehalten, das den Fiebertod der Mutter ausblendete.
»Sophie?« Johanna stupste sie mit den Füßen in die Seite. »Alles in Ordnung?«
»Hm …« Noch wollte sie sich nicht aus ihren Träumen reißen lassen. Der Vater hatte das Neugeborene nach dem Unglück zu Johanna gebracht. Es war bekannt, dass die Kräuterfrau sich verwaister Säuglinge annahm, nach dem Tod ihres einzigen Kindes vor ein paar Jahren kümmerte sie sich immer wieder um verlassene Stillkinder. Ein schreiendes Bündel und ein Tee aus Anis, Kümmel, Fenchel und Bockshornklee ließen ihre Milch jederzeit fließen.
»Hast du etwas von deinem Vater gehört?« Johanna ließ nicht locker und Sophie verabschiedete sich wehmütig von ihrem Tagtraum.
»Nein«, schüttelte sie den Kopf. »Eigentlich hätten sie vorgestern zurück sein müssen. An der Schiffbrücke beim Zoll wissen sie auch nicht, was los ist. Die Zöllner sagen, Viehhändler Schröder hätte ihnen einen Schwung Ochsen für diese Woche angekündigt. Die Hälfte sollte mit dem Schiff nach Wismar weitergehen, der Schiffer wartet schon ungeduldig im Hafen. Der Rest soll über Kiel nach Süden getrieben werden.«
»Am Wetter kann es nicht liegen.« Johanna nahm das Kind von der Brust und hielt es einen Moment in die Höhe, bevor sie es an die andere Seite legte. »Die Treiber könnten sich keine besseren Bedingungen wünschen. Seit mehr als zehn Tagen hat es nicht geregnet, trotzdem ist es nicht zu heiß für die Ochsen. Und das Wetter ist stabil. Schau, die Schwalben fliegen hoch.«
Johanna wies auf die winzigen, dunklen Körper, die wie Pfeile durch das weite Himmelsblau jagten.
Sophie nickte. »Vielleicht bleiben sie länger als geplant draußen auf der Heide«, murmelte sie wenig überzeugt, denn der Viehhändler galt als zuverlässig. Nach dem Tod der Mutter hatte der Vater ihren Bruder zum ersten Mal mit auf den Viehtrieb genommen, während sie sich um die Schwester und die kleine Hütte oben am Lollfuß kümmern sollte.
Sie vermisste ihren Bruder, Christian war der ältere von ihnen, wenn auch nur um wenige Minuten. Er war mehr als ihr Zwilling, mehr als ein Abbild ihrer selbst – flachsblond und sommersprossig. Sie waren doppelt und doch eins. Er war das Gegenstück ihrer Seele, ihr zweites Ich, Gleichklang und Spiegel. Sie liebte ihn wie die Wellen den Wind und das Wasser den Strand.
Nach dem Tod der Mutter hatten sie wortlos Trost in der Nähe des anderen gesucht, so wie sie sich schon beim Tod ihrer zwei Geschwister Halt gegeben hatten, die Gott nur wenige Tage nach der Geburt zu sich gerufen hatte. Nun, mit fast zwölf Jahren, waren sie das erste Mal getrennt. Auch wenn der Vater ihnen versprochen hatte, dass der Ochsentrieb nur wenige Wochen dauern sollte, ahnte Sophie: Ihre Kindheit endete in diesem Sommer.
»Meinst du, es ist etwas passiert?« Ängstlich drehte Sophie sich zu Johanna und blinzelte gegen die Sonne, deren Strahlen durch die Krone des Apfelbaums sickerten. Lichtpunkte tanzten vor ihren Augen und geblendet schloss sie die Lider. Sie sah nicht, dass Johanna ihrem Blick auswich.
»Nein, nein«, murmelte Johanna leise und küsste das Kind in ihren Armen auf das noch flaumige Haar. »Dann wüssten die Schleswiger längst Bescheid. Es ist doch ein gutes Zeichen, dass sie noch keinen Suchtrupp losgeschickt haben. Die Händler wissen alle, dass die Zeit auf der Trift langsamer vergeht als für die Wartenden daheim. Vielleicht sind die Tiere erschöpft, und die Treiber gönnen ihnen ein wenig Ruhe, bevor es auf die letzte Etappe geht?«
Sophie riss ein Büschel Gras aus, steckte sich den kräftigsten Stängel in den Mund und sog daran.
Der Ochsenhandel war harte Arbeit, schwer und voller Risiken. Die Viehhändler und Treiber lebten gefährlich. Schon beim Einkauf der Ochsen in Jütland fing es an. Hatten die Männer einen günstigen Preis ausgehandelt? Waren die Ochsen überhaupt gesund und
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