Der Sternenhuter - Unter dem Weltenbaum 04
davor zurück, ihn aus
ihrem Dienst zu entlassen und seinen Ritterschwur aufzuheben. Vielleicht steckte der Jüngling ja insgeheim in
einer Klemme und bedurfte der Hilfe. Gut möglich, daß
sie eines Tages Timozel beistehen konnte, so wie er es
seinerseits ihr gelobt hatte.
Doch nun waren die Mutter und ihr Hain erst einmal
wichtig. So wichtig, daß daneben nichts anderes mehr
zählte.
Die Macht der Natur, der Hain und die Gehörnten erwarteten sie bereits. Sobald Faraday alle herzlich begrüßt
hatte, schritt sie weiter über die Lichtung und in den
Zauberwald. Wieder versetzte es sie in höchste Verzückung, den verschiedenen fremdartigen Waldbewohnern
dabei zuzusehen, wie sie zwischen den Bäumen und auf
den freien Stellen umherhüpften und -tollten. Doch heute
durfte die Edle sich nicht zu lange an diesem Schauspiel
ergötzen, denn sie mußte unbedingt die Hütte wieder
erreichen, von der sie beim letzten Besuch so jählings
und vorschnell hatte lassen müssen.
Der Wald unterstützte ihren Wunsch und führte sie auf
die Pfade, die auf kürzestem Weg zu der Behausung der
Uralten führten.
Und dann erreichte sie tatsächlich die Lichtung mit der
kleinen Hütte. Alles sah noch genau so aus, wie sie es in
Erinnerung hatte. Gerade als Faraday wieder die Blumen
in dem umzäunten Garten bewunderte, öffnete sich die
leuchtend rote Tür und die Alte trat heraus. Wie beim
letzten Mal trug sie wieder ihren roten Umhang. Auch
heute hatte sie die Kapuze von ihrem blanken Schädel
zurückgeschlagen. Doch hatte sie nichts Furchterregendes, denn wiederum leuchteten ihre Augen lebendig wie
die eines Kindes, und sie hielt ihrer Besucherin ihre Hände entgegen.
»Seid willkommen, Faraday, Kind der Bäume. Tretet
ein in meinen Garten. Werdet Ihr diesmal wohl etwas
länger bleiben können?«
»Ja, das möchte ich gern, sehr gern sogar. Vielen
Dank, Mutter.«
»Aber nein, nein!« kicherte die Alte, humpelte den
Gartenweg hinunter und öffnete ihrem Gast die Tür. »Ich
bin nicht die Mutter. Sie hat mir aber dieses hübsche
Fleckchen Erde überlassen, damit ich hier meine Setzlinge versorgen kann, und dafür fühle ich mich ihr zutiefst
verpflichtet.«
Faraday trat durch das Gartentürchen und schloß es
hinter sich. »Wie soll ich Euch denn dann nennen?«
»Einen Namen wollt Ihr? Nun, dann sprecht mich mit
Ur an.« Sie rollte das r so lange, bis sie wieder Luft holen
mußte. Fast hörte sich »Ur« bei ihr wie ein Lied an.
Die Edle sah sich sorgfältig um und erkannte nach einer Weile, warum dieser Garten sich so sehr von allen
unterschied. »Aber das ist ja eine richtige Gärtnerei!« rief
sie aus.
»Was für ein kluges Mädchen!« freute sich die Alte.
Faraday mußte Ur festhalten, weil sie sonst vor Freude
die Balance verloren hätte.
Ur hatte hier nicht einfach Blumen und Sträucher angepflanzt. Tausende von Blumentöpfen waren in den
Boden eingelassen, ein jeder mit fetter und feuchter
schwarzer Erde gefüllt, und aus allen wuchs ein schlanker Sämling.
»Ich pflege die«, erklärte Ur, und ein Schleier legte
sich über ihre violetten Augen, »die sich mir anvertraut
haben.«
Faraday spürte gleich, daß es mit diesen Setzlingen
etwas Besonderes auf sich haben mußte. »Erzählt es
mir«, bat sie, »berichtet mir alles darüber.«
Die Alte deutete auf die Gartenbank, die im warmen
Sonnenschein angenehmes Verweilen versprach, und
Faraday half ihr dorthin. Nachdem sie sich niedergelassen hatte, schaute Faraday zum Himmel hinauf. Und es
kam ihr nicht im mindesten eigenartig vor, daß die Sonne
von dort oben so kräftig scheinen konnte, während
gleichzeitig die Sterne des Nachthimmels ihre Bahn zogen.
»Die Prophezeiung birgt so viele Geheimnisse«, begann die Gärtnerin, »die wir noch nicht verstehen. Und
diese Pflanzen gehören zu den Mysterien. Ich bezweifle,
daß selbst der Prophet so genau wußte, was er da zu Papier brachte, als er schrieb: ›Uralte Seelen, längst
schlummernd im Grab.‹ Denn meine Setzlinge ruhen
zwar in Erde, aber bestimmt nicht, um zu vergehen und
zu verfaulen.«
Ur legte eine Pause ein und betrachtete die kleinen
Pflanzen, die in dem sanften Wind leicht zu winken
schienen. »Aus jedem dieser Pflanzenkinder wird einmal
ein stattlicher Baum heranwachsen, Faraday, Baumfreundin. Dann nämlich, wenn Tencendor wieder in voller Waldespracht dastehen wird. Ihr wißt doch sicher, daß
Awarinheim zu weiten Teilen vernichtet wurde? Abgeholzt von den Äxten dieser artorfürchtigen
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