Der Sternenhuter - Unter dem Weltenbaum 04
Idioten, im
Namen des Seneschalls.«
»Ja«, antwortete Faraday und fühlte sich schuldig,
weil sie diesem Volk angehörte.
Ur fuhr mit ernster Miene fort. »Das heutige Awarinheim stellt nur einen Bruchteil seiner früheren Größe dar.
Ja, wenn Ihr Erfolg habt, werden sich die Wälder dereinst
wieder wie ein endloser Ozean bis in den Süden Tencendors erstrecken. Und dann auch wieder dem Zauberwald
ähneln, in dem Ihr Euch gerade aufhaltet.«
»Und hier seht Ihr die Setzlinge dieses gewaltigen und
zauberischen grünen Meeres, Faraday Nicht nur wird aus
ihnen der alte Wald wiedererstehen, sie sind auch die
einzigen Geschöpfe, die Gorgraels Lumpengesindel aus
Tencendor für immer vertreiben können. Ihr, mein liebes
Kind, seid die Auserwählte, diese Bäumchen zu setzen.
Die einzige, die sie aus dem Heiligen Hain holen darf.«
Tränen traten der Edlen in die Augen. In den zurückliegenden Monaten hatte es Momente gegeben, in denen
Faraday mit ihrem Schicksal gehadert hatte. Sie fühlte
sich in der Prophezeiung gefangen, und sah sich in einer
Rolle, die nur Schmerzen für sie bereithielt, die sie in
einer Finsternis umklammerte, in die niemals Licht
drang. Doch jetzt war Faraday überwältigt vor Glück und
mußte einfach weinen. Sie war auserkoren, die Großartigkeit der alten Wälder wiedererstehen zu lassen, sie
sollte diejenige sein, die die verzauberten Schößlinge in
ganz Achar einpflanzen durfte. »Seid von Herzen be
dankt«, flüsterte sie und drückte die Hand der Alten.
»Genug jetzt«, brummte diese. »Ihr sollt noch mehr
erfahren und so viel Schönes sehen.«
Die Alte beugte sich vor, daß ihre Gelenke knackten.
Sie hob den nächstliegenden Topf aus dem Boden. Sein
Schößling wirkte kleiner und zerbrechlicher als seine
Geschwister, so als habe seine Spitze sich gerade erst aus
dem Erdreich geschoben. »Nehmt ihn«, sagte die Gärtnerin und reichte Faraday den Topf. »Versucht, die Pflanze
zu erspüren, kennenzulernen.«
Der Topf fühlte sich warm an, und Faraday bemerkte
ein schwaches Prickeln in ihren Fingern. Der Setzling
war noch so zart, daß sie deutlich die Adern in den noch
fast durchsichtigen Blättern erkennen konnte. Durch jede
pulsierte neues Leben.
»Sie heißt Mirbolt«, erklärte Ur.
»Mirbolt«, wiederholte Faraday leise. »Haben alle
Pflänzchen einen Namen?«
»Ja, das haben sie, und Ihr müßt sie alle lernen.«
»Wie bitte?« Die Frau beliebt wohl zu scherzen, sagte
sich die Edle. Wie sollte ich mir denn die Namen von
mehreren tausend Setzlingen einprägen können?
»Ist Euch nicht aufgefallen, daß sich unter den Gehörnten nur Männer finden?«
»Ja«, antwortete Faraday nachdenklich.
»Dabei haben die Awaren doch männliche wie weibliche Magier«, lächelte die Gärtnerin. »Was glaubt Ihr
denn, wohin die weiblichen nach ihrem Tod gehen? Oder
in was sie sich verwandeln?«
»Oh!« entfuhr es Faraday. Als ihr klar wurde, daß sie
hier das Leben einer awarischen Zauberin in Händen
hielt, hätte sie vor Schreck fast den Topf fallen gelassen.
»Mirbolt starb vor einem Jahr während des Angriffs
auf den Hain des Erdbaums. Sie hat sich gerade erst verwandelt. Und nun wartet sie hier zusammen mit ihren
zweiundvierzigtausend Schwestern darauf, in Achar angepflanzt zu werden.« Ur schloß kurz die Augen, so als
wolle sie die Wärme der Sonne genießen. »Nun kennt Ihr
ein Geheimnis, von dem nur die weiblichen Magier wissen. Nicht einmal Euer Freund Ramu hat eine Ahnung
von der Existenz dieser Setzlinge.«
»Zweiundvierzigtausend?« keuchte Faraday.
»Die Zauberinnen der Waldläufer verwandeln sich
schon seit über fünfzehntausend Jahren, Baumfreundin.
Genau so wie die männlichen Magier. Ich sollte allerdings erwähnen, daß sie nicht nur als Gehörnte wiedererstehen. Gern verwandeln sie sich in die Fabelwesen, die
Ihr auf Eurem Weg durch den Wald gesehen habt. Die
Awaren sind das älteste Volk von Tencendor.«
»Und ich muß alle Namen lernen?«
»Ja, Faraday, da bleibt Euch wohl nichts anderes übrig. Man kann sie nicht in die Erde einsetzen, wenn man
ihren Namen nicht kennt. Freut Euch doch, einen habt Ihr
bereits gelernt, den von Mirbolt nämlich.«
Ramu lag in seinem Lager aus Zweigen und Sträuchern
und wand sich vor Qualen. Seine Knochen verschoben
und veränderten sich. Er wußte, daß ihm nur noch wenig
Zeit blieb, und er sich von seinem Volk verabschieden
mußte. Und er wußte auch, daß die Verwandlung nicht so
wie erwartet verlief; ganz anders als normalerweise
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