Der Sternenwald
können.«
»Ich kenne dich zu gut. Du könntest nie etwas vor mir verbergen.« Osira’h kam näher und blieb dicht vor dem Designierten stehen.
Er legte ihr den Arm um die schmale Schulter. »Genau so sollte es sein. Ich hoffe nur, dass die Hydroger ebenso transparent für dich sind.«
65 ERSTDESIGNIERTER JORA’H
Nur von seinen Gedanken begleitet stand Jora’h in einem Raum voller Totenköpfe. Er hatte die Wächter und Bediensteten fortgeschickt, damit er allein sein konnte. Die glühenden, milchigen Wände wirkten fast wie durchsichtige Knochen.
Das Ossarium des Prismapalastes war für die Söhne des Weisen Imperators ein Ort der Kontemplation, Reflektion und Ehrfurcht. In wabenartigen, verzierten Nischen ruhten die Köpfe früherer Weiser Imperatoren, die vor Jahrtausenden über das Ildiranische Reich geherrscht hatten.
Jora’hs Arme hingen nach unten und der lange Umhang schien an seinen Schultern zu zerren, aber er war nicht so schwer wie die auf seinem Selbst lastende Bürde. Er sah leere Augenhöhlen, kleine, gleichmäßig geformte Zähne und glatte elfenbeinfarbene Stirnen. Waren diese Männer ebenfalls als Erstdesignierte hierher gekommen, um die gleichen Fragen zu stellen? Hatten sie alle, auch sein Vater Cyroc’h, hier im Ossarium gestanden und befürchtet, nicht bereit zu sein?
Es würde nicht mehr lange dauern, bis auch der Totenkopf von Jora’hs Vater einen Platz bei diesen stummen und verehrten Vorfahren fand.
Alle Ildiraner glaubten an die schimmernde Sphäre mit der Lichtquelle, an eine Existenzebene, die nur aus Licht bestand. Ein Rinnsal jenes heiligen Lichts erreichte das reale Universum und der Weise Imperator war der Brennpunkt für die Seelenfäden, das Thism. Alle Ildiraner fühlten es, manche Geschlechter deutlicher als andere. Sie kannten keinen religiösen Zweifel und deshalb gab es auch keine rivalisierenden Sekten mit unterschiedlichen Interpretationen – was bei den Menschen durchaus der Fall war, wie Jora’h wusste. Die Linsen-Priester fokussierten die Lichtfäden und standen mit ihrem Rat geringeren Ildiranern zur Seite.
Doch der Erstdesignierte Jora’h musste allein zurechtkommen.
Alle ildiranischen Geschlechter bewahrten die Köpfe ihrer Toten auf. Aufgrund einer sonderbaren Phosphoreszenz in der Knochenstruktur glühten die Schädel eine Zeit lang, bevor sie schließlich verblassten. Die Weisen Imperatoren waren der Lichtquelle am nächsten und deshalb leuchteten ihre Totenköpfe mehr als tausend Jahre lang.
Das von den Köpfen der toten Weisen Imperatoren ausgehende Glühen erweckte den Eindruck, als wären ihre Gedanken noch immer aktiv und damit beschäftigt, das Thism zu kanalisieren. Jora’h erhoffte sich eine Offenbarung, aber die Stille um ihn herum dauerte an.
Jeden Tag arbeitete er eng mit seinem Vater und anderen Beratern zusammen, um sich auf seine Rolle als nächstes Oberhaupt des ildiranischen Volkes vorzubereiten. Er wusste, dass ihm noch immer viele Dinge verborgen blieben, viele Geheimnisse, die nur der Weise Imperator kannte und verstand. All das würde sich ihm offenbaren, wenn er selbst zum Brennpunkt des Thism wurde. Bis zu jenem Tag gab es viel zu bedenken.
Je mehr er arbeitete und je mehr er versuchte, sich zu verbessern, desto weniger vorbereitet fühlte er sich. Aber Jora’h wusste, dass ihm alle anderen folgen würden. Sie würden seine Entscheidungen nicht infrage stellen, weil sie dem Thism und dem Wohlwollen des Oberhaupts aller Ildiraner vertrauten. Jora’h wünschte sich, ebenso zuversichtlich sein zu können.
Nachdem er die glühenden Totenköpfe eine Zeit lang stumm betrachtet hatte, versprach er allen seinen Vorfahren, dass er sein Bestes geben würde. Er wollte sich bemühen, ein Weiser Imperator zu werden, der es verdiente, ihnen eines Tages im Ossarium des Prismapalastes Gesellschaft zu leisten.
Dann ging Jora’h und seine Gedanken drehten sich vor allem darum, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Es kümmerte ihn weniger, wie man sich nach seinem Tod an ihn erinnern würde.
Als Jora’h zu seinem privaten Quartier zurückkehrte, bemerkte er erstaunt die Silhouette einer Person, die hinter den lichtdurchlässigen Wänden auf ihn wartete.
Er glaubte nicht, einen Partnerinnentermin vergessen zu haben. In letzter Zeit war er so sehr damit beschäftigt, sich von seinem kranken Vater unterweisen zu lassen und im Ossarium nachzudenken, dass er viele Termine mit ausgewählten Partnerinnen hatte verschieben müssen.
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