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Der stille Amerikaner

Der stille Amerikaner

Titel: Der stille Amerikaner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Greene
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heran. Das Sirenengeheul der Polizeiautos, das Glockengeläute der Krankenwagen und Feuerwehrautos drang nur gedämpft an meine benommenen Ohren. Einen Augenblick lang hatte ich vergessen, daß Phuong in der Milchbar auf der anderen Seite des Platzes gewesen sein mußte. Rauch lag dazwischen. Ich konnte nicht hindurchsehen.
    Als ich auf den Platz hinaustrat, hielt mich ein Polizist an. Die Polizei hatte rund um den Rand des Platzes einen Kordon gezogen, um ein weiteres Anwachsen der Menschenmenge zu verhindern, und es tauchten bereits die ersten Sanitäter mit Tragbahren auf. Ich flehte den Polizisten vor mir an: »Lassen Sie mich hinüber. Ich habe drüben eine Bekannte …«
    »Zurück«, sagte er. »Jeder hier hat Bekannte.«
    Er trat beiseite, um einen Priester durchzulassen, und ich versuchte, diesem zu folgen, aber der Polizist zog mich zurück. Ich sagte: »Presse«, und suchte vergebens nach meiner Brieftasche, in der ich meinen Ausweis hatte, aber ich konnte sie nicht finden. War ich heute früh ohne sie ausgegangen? Ich bat: »Sagen Sie mir wenigstens, was mit der Milchbar passiert ist«: Der Qualm begann sich zu verziehen, und ich versuchte hinüberzuschauen, aber die Menge, die sich vor mir angesammelt hatte, war zu groß. Der Polizist sagte etwas, was ich nicht verstand.
    »Wie bitte?«
    Er wiederholte: »Ich weiß es nicht. Treten Sie zurück. Sie versperren den Sanitätern den Weg.«
    Konnte ich meine Brieftasche im »Pavillon« verloren haben? Ich machte gerade kehrt, um zurückzugehen, da stand Pyle vor mit. »Thomas«, rief er aus.
    »Pyle«, sagte ich, »um Gottes willen, wo haben Sie Ihren Diplomatenpaß? Wir müssen auf die andere Seite hinüber. Phuong ist in der Milchbar.«
    »Nein, nein«, sagte er.
    »Bestimmt ist sie dort, Pyle. Sie geht immer hin. Um halb zwölf. Wir müssen sie suchen.«
    »Sie ist nicht dort, Thomas.«
    »Wieso wissen Sie das? Wo ist Ihr Paß?«
    »Ich habe sie davor gewarnt, hinzugehen.«
    Ich wandte mich wieder dem Polizisten zu, den ich beiseite stoßen wollte, um dann quer über den Platz zu rennen: Vielleicht würde er schießen; es kümmerte mich nicht – und dann erreichte das Wort »gewarnt« mein Bewußtsein. Ich faßte Pyle am Arm. »Gewarnt?« sagte ich. »Was soll das heißen: gewarnt?«
    »Ich sagte ihr, sie soll sich heute vormittag fernhalten.«
    Jetzt fügte sich plötzlich ein Teil zum andern wie in einem Zusammensetzspiel. »Und Warren?« fragte ich. »Wer ist Warren? Er warnte diese jungen Damen.«
    »Ich verstehe nicht.«
    »Unter den Amerikanern darf es keine Verluste geben, so ist es doch?«
    Ein Ambulanzwagen erzwang sich den Weg durch die Rue Catinat herauf und schwenkte in den Platz ein. Der Polizist, der mich angehalten hatte, trat zur Seite, um ihn durchzulassen. Der nächste Polizist war in eine Auseinandersetzung verwickelt. Ich stieß Pyle vor mir her in den Platz hinein, bevor man mich aufhalten konnte.
    Wir befanden uns bald inmitten einer Trauergemeinde. Die Polizei konnte zwar weiteren Menschen den Zutritt zum Platz verwehren, sie besaß aber nicht die Macht, den Platz selbst von den Überlebenden und den Neugierigen zu säubern, die schon vor ihr eingetroffen waren. Die Ärzte hatten soviel zu tun, daß sie sich um die Toten gar nicht kümmerten, und so wurden diese ihren Besitzern überlassen, denn man kann einen Toten genauso besitzen, wie man einen Stuhl besitzt. Eine Frau hockte auf dem Boden und hielt im Schoß das, was von ihrem Baby übriggeblieben war; in einer Art Schamhaftigkeit hatte sie es mit ihrem Bauernstrohhut bedeckt. Still und schweigend saß sie da.
    Was mich auf dein Platz am meisten beeindruckte, war die Stille. Es war wie in einer Kirche, die ich einst während der Messe besucht hatte – die einzigen Geräusche kamen von jenen, die ihren Dienst versahen, nur da und dort hörte man Europäer schluchzen und flehen und wieder verstummen, als ob die Zurückhaltung, die Geduld und die Würde des Ostens sie beschämt hätten. Der beinlose Torso am Rande der Grünanlage zuckte noch immer, wie ein Huhn, das seinen Kopf verloren hat. Nach dem Hemd des Mannes zu schließen, war er wahrscheinlich ein Rikschalenker gewesen.
    Pyle sagte: »Es ist grauenhaft.« Er blickte auf die feuchten Flecken an seinen Schuhen und fragte mit Übelkeit in der Stimme: »Was ist das?«
    »Blut«, sagte ich. »Haben Sie noch nie Blut gesehen?«
    »Ich muß mir die Schuhe putzen lassen, bevor ich den Gesandten aufsuche«, sagte er. Ich glaube,

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