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Der stille Amerikaner

Der stille Amerikaner

Titel: Der stille Amerikaner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Greene
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hatten ja keine Veranlassung, anzunehmen, daß es einmal auf die verschiedenen Zeitpunkte ankommen würde. Im Gegenteil: wie verdächtig würde es wirken, wenn Sie in allen Ihren Angaben auf die Minute genau gewesen wären.«
    »War ich das nicht?«
    »Nicht ganz. Es war fünf Minuten vor sieben, als Sie sich mit Wilkins unterhielten.«
    »Schon wieder zehn Minuten!«
    »Natürlich. Wie ich es schon sagte. Und es hatte eben erst sechs geschlagen, als Sie ins ›Continental‹ kamen.«
    »Meine Uhr geht immer ein bißchen vor«, sagte ich. »Wie spät ist es jetzt auf Ihrer Uhr?«
    »Zehn Uhr acht.«
    »Und auf meiner ist es zehn Uhr achtzehn. Sehen Sie.«
    Er nahm sich nicht die Mühe, nachzusehen. Er sagte: »Dann betrug also der Fehler in der Berechnung des Zeitpunkts, zu dem Sie nach Ihrer Angabe mit Wilkins sprachen, volle fünfundzwanzig Minuten – nach Ihrer Uhr. Das ist ein ganz bedeutender Irrtum, nicht wahr?«
    »Vielleicht korrigierte ich die Zeit ganz unbewußt. Vielleicht hatte ich an diesem Tag gerade meine Uhr zurückgestellt. Das tue ich bisweilen.«
    »Was mich interessiert«, sagte Vigot, – »könnte ich noch ein wenig Soda haben? Sie haben ihn diesmal ziemlich stark gemacht – ist die Tatsache, daß Sie mir gar nicht böse sind. Es ist nicht gerade angenehm, so ausgefragt zu werden, wie ich Sie ausfrage.«
    »Ich finde es interessant, wie einen Krimi. Außerdem wissen Sie ja, daß ich Pyle nicht ermordete – Sie haben es selbst gesagt.«
    »Ich weiß, daß Sie beim Mord nicht anwesend waren«, sagte Vigot.
    »Mir ist nicht klar, was Sie durch den Nachweis, daß ich mich hier um zehn und dort um fünf Minuten verrechnet habe, beweisen wollen.«
    »Es ergibt einen kleinen Spielraum«, erwiderte Vigot, »eine kleine Lücke in der Zeit.«
    »Eine Lücke – wozu?«
    »Für einen Besuch Pyles bei Ihnen.«
    »Warum legen Sie solchen Wert darauf, das nachzuweisen?«
    »Wegen des Hundes«, sagte Vigot.
    »Und des Schmutzes zwischen seinen Zehen?«
    »Es war nicht Schmutz. Es war Zement. Sehen Sie, während der Hund in jener Nacht Pyle begleitete, trat er irgendwo in feuchten Zement. Es fiel mir ein, daß im Erdgeschoß Ihres Hauses Maurer an der Arbeit waren – sie sind noch immer dort. Als ich vorhin zu Ihnen heraufkam, ging ich an ihnen vorüber. Hierzulande arbeiten sie bis spät in die Nacht hinein.«
    »Ich möchte nur wissen, in wie vielen Häusern Maurer zu finden sind – und feuchter Zement. Hat sich einer von ihnen an den Hund erinnert?«
    »Natürlich fragte ich sie danach. Aber selbst wenn sich die Leute daran erinnert hätten, würden sie es mir nicht gesagt haben. Ich bin die Polizei.« Er brach ab, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und starrte auf das Glas in seiner Hand. Ich hatte das Gefühl, daß ihm irgendeine Analogie eingefallen und er mit seinen Gedanken weit fort war. Eine Fliege kroch ihm über den Handrücken, er fegte sie nicht weg – genausowenig, wie Dominguez dies getan hätte. Ich hatte das Empfinden, eine unerschütterliche, tief gegründete Kraft vor mir zu haben. Wer weiß, vielleicht betete er.
    Ich stand auf, teilte den Vorhang, der das Schlafzimmer abschloß, und ging hinein. Ich wollte dort nichts weiter, außer für einen Augenblick von der stummen Gestalt im Lehnstuhl loszukommen. Phuongs Bildbände standen wieder auf dem Regal. Zwischen die Tiegel mit ihren kosmetischen Mitteln hatte sie ein Telegramm gesteckt – offenbar irgendeine Nachricht von der Londoner Redaktion. Ich war nicht in der Stimmung, es zu öffnen. Alles war so, wie es vor Pyles Ankunft gewesen war. Zimmer ändern sich nicht, Ziergegenstände bleiben, wo man sie hinstellt: Nur das Herz verfällt.
    Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück, und Vigot führte das Glas an seine Lippen. Ich sagte: »Ich habe Ihnen nichts mitzuteilen, ganz und gar nichts.«
    »Dann werde ich mich wohl auf den Weg machen«, meinte er. »Ich glaube nicht, daß ich Sie noch einmal belästigen werde.«
    An der Tür wandte er sich nochmals um, als ob er nicht gewillt wäre, die Hoffnung aufzugeben – seine Hoffnung oder die meine. »Sonderbar, daß Sie sich an jenem Abend ausgerechnet einen solchen Film ansahen. Ich hätte mir nicht gedacht, daß ein Kostümfilm Ihrem Geschmack entspricht. Was war es doch nur? ›Robin Hood‹?«
    »›Scaramouche‹, glaube ich. Ich mußte irgendwie die Zeit totschlagen. Und ich brauchte Ablenkung.«
    »Ablenkung?«
    »Wir alle haben unseren privaten Kummer, Vigot«, erklärte ich mit

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