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Der stille Amerikaner

Der stille Amerikaner

Titel: Der stille Amerikaner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Greene
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es war ihm gar nicht bewußt, was er redete. Er sah’ zum erstenmal den wirklichen Krieg: Er war im Boot nach Phat Diem gefahren, in einer Art Schuljungentraum; und Soldaten zählten in seinen Augen ohnehin nicht.
    Die Hand auf seiner Schulter zwang ich ihn, sich umzusehen. »Um diese Zeit ist der Platz stets voll von Frauen und Kindern – es ist die Einkaufszeit«, sagte ich, »warum wählte man ausgerechnet diese Stunde?«
    Er antwortete matt: »Es hätte eine Parade stattfinden sollen.«
    »Und Sie hofften, ein paar Offiziere zu erwischen. Aber die Parade wurde gestern abgesagt, Pyle.«
    »Das wußte ich nicht.«
    »Das wußten Sie nicht!« Ich stieß ihn in eine Blutlache; eine Tragbahre hatte sie hinterlassen, die vorhin dort gestanden hatte. »Sie sollten besser informiert sein.«
    »Ich war nicht in der Stadt«, sagte er, während er seine Schuhe betrachtete. »Man hätte die Sache abblasen sollen.«
    »Und auf den Spaß verzichten?« fragte ich ihn. »Erwarten Sie denn, daß General Thé sich die Gelegenheit zu einer solchen Demonstration entgehen läßt? Das ist doch noch besser als eine Parade. Frauen und Kinder sind eine Sensation im Krieg, Soldaten sind es nicht. Das hier kommt in die Weltpresse. Sie haben General Thé ordentlich bekannt gemacht, Pyle. Und die Dritte Kraft und die nationale Demokratie haben Sie an Ihrem rechten Schuh kleben. Gehen Sie nach Hause zu Phuong und erzählen Sie ihr von Ihrer Heldentat – es gibt jetzt ein paar Dutzend ihrer Landsleute weniger, um die man sich Sorgen machen muß.«
    Ein kleiner, dicker Priester hastete vorüber; er trug etwas in einer Schüssel, die mit einer Serviette bedeckt war. Pyle war schon lange verstummt, und ich hatte nichts mehr zu sagen. Ich hatte schon viel zuviel gesagt. Er sah bleich und gebrochen aus und schien einer Ohnmacht nahe. Ich dachte: Was hat es für einen Sinn? Er wird immer harmlos sein. Man kann die Harmlosen nicht tadeln, denn sie sind stets unschuldig. Man kann sie nur zügeln oder ausmerzen. Unschuld ist eine Form des Wahnsinns.
    Er sagte: »Thé hätte das nicht getan. Ich bin überzeugt, daß er es nicht getan hätte. Es muß ihn jemand getäuscht haben. Die Kommunisten …«
    Er war bis zur Unverwundbarkeit gepanzert mit seinen guten Absichten und seiner Unwissenheit. Ich ließ ihn auf dem Platz stehen und ging die Rue Catinat hinauf, bis dorthin, wo die scheußliche rosarote Kathedrale den Weg versperrte. Die Menschen strömten schon in Scharen hinein. Es muß ihnen ein Trost gewesen sein, für die Toten zu den Toten beten zu können.
    Zum Unterschied von ihnen hatte ich allen Grund zur Dankbarkeit, denn war nicht Phuong am Leben geblieben? War sie nicht »gewarnt« worden? Doch was meine Erinnerung behielt, war der Torso auf dem Platz, das Baby im Schoß der Mutter. Sie waren nicht gewarnt worden: Sie waren nicht so wichtig gewesen. Und selbst wenn die Parade stattgefunden hätte, wären sie nicht genauso dort gewesen, aus Neugierde, um die Soldaten zu sehen und die Ansprachen zu hören und Blumen zu streuen? Eine hundert Kilogramm schwere Bombe macht keine Unterschiede. Wie viele tote Offiziere rechtfertigen den Tod eines Kindes oder eines Rikschalenkers, wenn man eine nationaldemokratische Front errichtet? Ich hielt eine Motor-Rikscha an und wies den Fahrer an, mich zum Quai Mytho zu bringen.

Vierter Teil

Erstes Kapitel
     
    Ich hatte Phuong Geld für einen Kinobesuch mit ihrer Schwester gegeben, um völlig ungestört zu sein. Ich selbst ging mit Dominguez zum Dinner aus, kam aber rechtzeitig in meine Wohnung zurück und wartete bereits, als Vigot kurz vor zehn erschien. Er entschuldigte sich, daß er keinen Drink nahm – er sei zu müde, meinte er, und ein Drink würde ihn einschläfern; er habe einen sehr langen Tag hinter sich.
    »Mord und plötzlicher Tod?«
    »Nein. Kleine Gelegenheitsdiebstähle. Und ein paar Selbstmorde. Diese Leute sind leidenschaftliche Spieler, und wenn sie alles verloren haben, bringen sie sich um. Wenn ich gewußt hätte, wieviel Zeit ich in Leichenschauhäusern verbringen muß, wäre ich vielleicht nicht Polizeibeamter geworden. Ich kann den Geruch von Ammoniak nicht ausstehen. Nun, vielleicht trinke ich doch ein Glas Bier.«
    »Ich habe leider keinen Kühlschrank.«
    »Zum Unterschied vom Leichenschauhaus. Dürfte ich dann um einen kleinen englischen Whisky bitten?«
    Mir fiel die Nacht ein, in der ich mit ihm in die Totenhalle hinuntergestiegen war, wo man Pyles Leichnam wie ein Tablett

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