Der stille Herr Genardy
Genardy, jetzt oder nie.
Als ich bei Mutter ankam, war es fast sieben. Und als Mutter mir dann erklärte, warum Nicole nicht mehr bei ihr war, stand ich plötzlich auf dem verschneiten Bahndamm. Mutter hatte mir die Tür geöffnet und dabei etwas in der Hand gehalten.
»Kommst du noch einen Moment herein«, fragte sie,»oder hast du keine Zeit? Wie geht es denn deiner Kollegin? Was war das denn für ein Unfall?« Und ich starrte auf das Höschen in ihrer Hand. Nicole hatte es mitgebracht, hatte es von Frau Kolling in die Hand gedrückt bekommen.
»Hier, nimm es wieder mit und sag deiner Mutter, sie hat sich geirrt. Das ist nicht von Denise, es ist deins.« Ausgetauscht, dachte ich noch ganz flüchtig. Er hat die Höschen ausgetauscht, hat mir das von Hedwigs Tochter auf die Leine gehängt, dafür unser Freitag-Höschen genommen und gedacht, ich würde es nicht bemerken. Ich drückte Mutter von der Tür weg und hatte auch schon das Telefon in der Hand. Günther war nicht zu erreichen. Die Nummer der Klinik mußte ich nachschlagen. Die Stationsschwester holte Wolfgang Beer ans Telefon.
»Er hat meine Tochter«, sagte ich, vielleicht weinte ich es auch.
»Er ist heute nachmittag bei meiner Mutter aufgekreuzt und hat sie mitgenommen. Er wollte ihr Ponys zeigen, Pferde. Nicole liebt Pferde. Angeblich hat sein Sohn Aufnahmen auf einem Gestüt hier in der Nähe gemacht. Er sollte die Aufnahmen dort abliefern. Er hat doch gar keinen Sohn.« Was Wolfgang Beer mir antwortete, hörte ich gar nicht mehr. Mutter wollte unbedingt, daß ich bei ihr blieb, daß ich ihr alles erklärte. Sie wollte mir sogar einen Kaffee machen. Aber ich hatte keine Zeit für Kaffee und Erklärungen, ich mußte doch rennen. Den verschneiten Bahndamm entlang, der in Wirklichkeit die Straße war. Und während ich rannte, fuhren etliche Streifenwagen los, aber sie wußten gar nicht genau, wohin sie fahren sollten. Es gab mehr als ein Gestüt in der Nähe, und dabei glaubten sie nicht einmal, daß er wirklich zu einem Gestüt gefahren war. Aber da hatten sie sich getäuscht. Kein richtiges Gestüt, nur eine Weide mit Ponys darauf. Und kein Mensch in der Nähe. Er setzte Nicole auf eins der Tiere, ohne Sattel, ohne Decke. Es hat ihr bestimmt gefallen. Er ließ das Tier im Kreis herumlaufen, hielt es wahrscheinlich an der Mähne fest. Und anschließend roch Nicole ein bißchen nach Pferd. Als er dann mit ihr heimfuhr, sagte sie:
»Ich dusche mich am besten gleich, bevor Mama kommt.« Aber sie badete viel lieber. Und das hatte sie ihm bereits erzählt. Als ich das Haus erreichte, kam mir nicht der Gedanke, in der Garage nachzusehen. Ich ging hinein, ging gleich in die Küche und nahm mir ein Messer aus dem Schubfach. Eins von den großen, den scharfen, eins von denen, die ich früher benutzt hatte, um ein Stück Rindfleisch damit in Gulaschwürfel zu schneiden. Es war so still wie in einer Leichenhalle. Überall Brausen und Summen und Rauschen, nur das eigene Blut in den Ohren, wie es durch den Kopf donnerte und all die Gedanken verschluckte. Ich bringe dich um, wenn du sie angerührt hast, ob du nun Franz heißt oder Josef. Ich hatte die Schuhe ausgezogen, als ich die Diele betrat, aber das merkte ich erst, als ich die Treppenstufen unter den Fußsohlen spürte. Sie waren so kalt. Ich rechnete nicht wirklich damit, daß er daheim war. Es war nur so ein Zwang, hinaufgehen und baden. Auf Franz warten, der mir immer den Rücken waschen wollte. Und auch vorne ein bißchen. Nur ein bißchen, Siggi, es ist doch nichts dabei. Heute nicht, wenn du die Bürste anrührst, hau ich dir die Hand ab. Ich steche gleich zu. Daß ich das Höschen noch in der Hand hielt, wußte ich gar nicht. Ein Donnerstag-Höschen. Meine Damen und Herren Geschworenen, hier sehen Sie den letzten Beweis. Dann war die Tür auf. Ich wußte auch nicht, daß ich den Schlüssel aus dem Schrank genommen hatte. Und es war nicht mehr still im Haus. Franz keuchte mir wieder die Ohren voll. Er schwitzte stark, immer wieder fiel ein Tropfen von seinem Gesicht auf meins. Ich fand es widerlich, so widerlich wie die Dellen seiner Finger in der Cremedose. Ich bin auch ganz vorsichtig, Siggi, ich will dir nicht weh tun. Er war nicht vorsichtig. Das war er wahrscheinlich nie, wenn er zum Äußersten ging. Was kümmerte es ihn denn noch, wie ein kleines Mädchen sich dabei fühlte? Er kniete auf seinem Bett, und seine Hüften stießen immer wieder vor. Unter jede Achsel hatte er sich ein Bein geklemmt.
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