Der stille Herr Genardy
erzählt hatte, von dem langen Weg dorthin, der beschwerlichen Arbeit und daß die Kräfte nachließen. Er hatte nur zugehört. Nach ihm würde niemals jemand fragen. Das alles beruhigte ihn. Es gelang ihm, vernünftig und logisch zu überdenken, was er jetzt als nächstes tun mußte. Das Gespräch mit dem Hausbesitzer strich er vorerst von seinem Plan. Es erschien ihm zu riskant, die Wohnung jetzt gleich zu kündigen. Wenn er sie zu lange behielt, würden sich daraus natürlich finanzielle Probleme ergeben, aber das konnte jetzt nicht seine Sorge sein. Möglicherweise kam die Polizei noch einmal, vielleicht hatten sie weitere Fragen. Da sollte er lieber persönlich an Ort und Stelle sein. Und solange bleiben, bis sich herausstellte, daß sie sich an dem Jungen da oben festbissen. Jetzt beglückwünschte er sich zu der Geschichte, die er am Tag zuvor den beiden Frauen aufgetischt hatte. Renovieren, neue Einrichtung, all das brauchte Zeit. Wie er da am Küchentisch saß, legte er sich jeden Schritt zurecht. Er wäre so gerne mit den restlichen Möbelstücken losgefahren und nie mehr zurückgekommen. Es kam vielleicht einer Flucht gleich, darüber dachte er nicht nach. Er dachte nur daran, daß er jetzt dazu verdammt war, jeden Abend hier zu sitzen, sich von der Alten nebenan belästigen zu lassen, auf der Couch zu schlafen, während sein Bett bereits in der neuen Wohnung stand, und das vielleicht auf Wochen hinaus. Wochen, in denen die Ältere so manchen Nachmittag kommen würde, um in den unteren Räumen nach dem Rechten zu sehen, Wochen, in denen das kleine Püppchen da herumlief.
Und er war hier. Aber noch einmal kam alles ganz anders. Er brachte den Mietwagen zurück und holte seinen eigenen, besorgte in einem großen Kaufhaus eine Kochplatte als Ersatz für den Herd und einen Eimer, den er unter den Wasserhahn stellen wollte. So konnte er sich wenigstens am Wochenende in der neuen Wohnung aufhalten und der Alten erzählen, daß er den Besuch bei seiner Tochter auf das Wochenende verschoben hatte. Dann fuhr er noch einmal los, um ein wenig Kleidung, Geschirr und die Lebensmittel zurückzuholen. Er nahm sich Zeit, trug die Kartons nicht gleich zum Wagen, baute das Bett und den Schrank zusammen, stellte den Eimer unter den Wasserhahn, verband die Kochplatte mit einer Steckdose und hoffte im stillen darauf, daß die Ältere vorbeikam, natürlich mit dem Püppchen auf dem Arm. Es war inzwischen später Nachmittag, und er wurde hungrig. Er brühte sich Kaffee auf, bestrich zwei Brot-scheiben, trug alles hinüber in den Wohnraum und machte es sich in einem der beiden Sessel bequem. Wenigstens essen wollte er hier noch in aller Ruhe. Bevor er sich Kaffee einschenkte, stand er noch einmal auf, öffnete die Tür, die hinaus auf den Balkon führte. Es war kühl und regnerisch draußen, die Luft war frisch, aber das störte ihn nicht. Und dann hörte er die Stimmen. Sie drangen aus dem Garten zu ihm herein. Die Stimmen kleiner Mädchen. Er ging hinaus auf den Balkon, beugte sich über die Brüstung und schaute hinunter. Sie waren direkt unter ihm auf den Steinen der Terrasse, hantierten dort mit einem Besen herum. Im ersten Augenblick schlug ihm das Herz bis zum Hals. Allein ihre hellen Stimmen ließen ihm das Blut in den Kopf steigen. Wie zierlich sie waren. Die gelben Regenmäntel und die Kapuzen ließen sie wie Zwerge erscheinen. Er versuchte, ihr Alter zu schätzen. Sie waren wohl schon zu alt für eine dauerhafte Freundschaft, aber sie waren reizend, beide. Eines der Kinder drehte den Kopf und schaute zu ihm hinauf. Nicht erschreckt, nur voller Erstaunen, wie ihm schien. Es richtete sich auf, schaute ihm unverwandt ins Gesicht. Er lächelte, so wie er immer lächelte, wenn er ein Kind vor Augen hatte. Ganz warm, herzlich und gütig.
»Hallo«, sagte er. Das Kind wirkte immer noch unsicher. Auch das zweite Kind hatte sich aufgerichtet, und jetzt flüsterten sie miteinander. Dann fragte eines:
»Wohnen Sie jetzt bei uns?« Bei uns! Es hallte ihm im Kopf nach. Bei uns! Wie ein Echo. Davon hatte die Ältere kein Wort gesagt, davon nicht. Unter einem Dach mit einem Kind, nur die Treppe hinunter. Den ganzen Tag außer Haus, hörte er die Ältere noch einmal sagen. Wie im Paradies. Kinder tranken so gerne Limonade, und die kleinen Pillen lösten sich fast augenblicklich auf und hinterließen kaum einen Nachgeschmack. Er lächelte nicht mehr, er lachte, nickte, als könne er gar nicht mehr damit aufhören.
»Ja«, rief er
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