Der stille Herr Genardy
dem Kopf, die Verzweiflung darin, die Hilflosigkeit. Es war nicht viel zu tun. Ich hatte mehr als genug Zeit zum Nachdenken. Ich konnte mir so gut vorstellen, wie Hedwig jetzt in ihrer Wohnung saß, ihre Angst, daß dem Kind etwas zugestoßen war, etwas Grauenhaftes. Meine Großmutter hatte einmal gesagt:
»Es ist schlimm, wenn einem ein Kind vor den Augen überfahren wird. Da kann man leicht den Verstand verlieren. Aber wenn einem das Kind von solch einem Hund genommen wird, das überlebt man nicht. Da muß man sich immer vorstellen, wie es gelitten hat.« Von solch einem Hund! Als Großmutter das sagte, hatte ich tatsächlich an einen Hund gedacht und erst viel später verstanden, wie es gemeint gewesen war. Und ich konnte es mir vorstellen. Wie da Bilder durch Hedwigs Kopf zogen. Wie sie ihrerseits versuchte, sich vorzustellen, was passiert sein könnte. Das Kind spielt vor dem Haus, vielleicht im Eingangsbereich, im Flur oder auf der Treppe. Und dann kommt einer, spricht es an, fragt es etwas. Und das Kind steigt ganz arglos zu ihm in einen Wagen. Bekommt vielleicht noch ein Eis spendiert, die Henkersmahlzeit! Franz hatte früher oft zu mir gesagt, daß ich mich schnell in etwas hineinsteigere. Das war es wohl. Nach fünf wurde es so schlimm, daß ich fast keine Luft mehr bekam. Es war ein Gefühl, als ob mein Herz auf die dreifache Größe angeschwollen wäre. Ich hätte weglaufen mögen, weit weg. Im Geist sah ich den verschneiten Bahndamm unter meinen Füßen, von dem ich vor sechs Jahren so oft geträumt hatte. Laufen, einfach laufen und hinter mir das Keuchen, die heisere Stimme.
»Da ist was, Siggi, das wünsch’ ich mir schon so lange. Aber du willst es bestimmt nicht. Oder meinst du, du würdest es tun, nur mir zuliebe? Es ist nichts Schlimmes, wirklich nicht. Ich wünsch’ mir nur, du würdest dich mal rasieren.« Es schoß mir einfach so durch den Kopf. Ich konnte nichts dagegen tun.
»So ist das«, sagte meine Schwiegermutter,»wenn ein Mann nicht mehr weiterweiß.« Um mich herum drehte sich alles. Es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre ich zusammengebrochen. Eine Kollegin brachte mich in den Aufenthaltsraum, gab mir ein Glas Wasser und eine Pille für den Kreislauf. Ich hatte noch nie Probleme mit dem Kreislauf gehabt. Von der Pille bekam ich zu allem Überfluß auch noch Kopfschmerzen. Der Abteilungsleiter kam dazu. Er war richtig nett und mitfühlend, fragte, ob ich heimfahren wolle. Aber ich hätte nicht einmal vom Stuhl aufstehen können. Mir war immer noch so schwindlig, daß ich mich am Tisch festhalten mußte. Bis kurz vor sechs saß ich da, dann ging es ganz allmählich vorbei.
Als ich heimkam, war ich wieder einigermaßen in Ordnung. Noch ein bißchen Druck im Kopf und sehr deprimiert. Das Gespräch mit Hedwig ging mir einfach nicht aus dem Sinn. Direkt vor dem Haus parkte ein grünes Auto. Ein altes mit ein paar notdürftig ausgespachtelten Stellen im Lack, verbeulten Kotflügeln, die vordere Stoßstange sah auch nicht eben frisch aus. Ich achtete nicht besonders darauf, dachte im ersten Moment nur, Günther wäre da. Seit ich ihn kannte, hatte er schon zweimal das Auto gewechselt. Er war immer knapp bei Kasse. Kaufte sich das billigste, was zu haben war. Fuhr es, bis es nicht mehr wollte oder konnte, manchmal nur ein paar Wochen lang. Und dann kaufte er sich das nächste. Ich hatte ihn schon einmal fragen wollen, warum er nicht einen Kredit aufnahm und sich ein Auto kaufte, das eine etwas längere Lebenserwartung hatte. Aber wir hatten das ja getrennt, seine Probleme und meine Probleme. Und das Auto vor dem Haus gehörte nicht Günther. Nicole saß allein vor dem Fernseher, bis unter die Haarwurzeln gefüllt mit Neuigkeiten.
»Du ahnst nicht, was passiert ist, Mama.« Das Auto hatte ich schon wieder vergessen. Es konnte auch jemandem in der Nachbarschaft gehören, wahrscheinlich dem Sohn von Frau Hofmeister. Der war vor ein paar Monaten ausgezogen, kam aber regelmäßig heim, um seine dreckige Wäsche abzuliefern und kleine Zuschüsse zum eigenen Haushalt zu erbetteln.
»Laß mich raten«, sagte ich,»du hast die Rechenarbeit zurückbekommen und eine Eins geschrieben.« Nicole schüttelte den Kopf. Und noch mal raten durfte ich nicht, dafür waren die Neuigkeiten viel zu interessant.
»Der Mann ist schon eingezogen!« Das war nun wirklich eine Überraschung. Und ich konnte es beim besten Willen nicht glauben. Er wollte doch renovieren lassen und neue Möbel kaufen. Das ging
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