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Der stille Herr Genardy

Der stille Herr Genardy

Titel: Der stille Herr Genardy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hammesfahr Petra
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nicht durchs Haus. Und wenn oben Leute arbeiten, wir gehen auch nicht rauf.« Ganz recht war es mir nicht. Aber ich nickte. Weil ich mir dachte, daß wohl nicht gleich heute die Maler kommen würden. Dann ging Nicole zur Schule, und ich rannte zum Bus. Der vierte Tag. Es hatte noch nie einen vierten Tag ohne Trauer gegeben. Ich dachte die ganze Zeit an Günther, an seinen Vortrag über die Bedeutung des Traumes. Einen Ersatz, hatte er gesagt, der dir die Arbeit und das Denken abnimmt. So war es nicht, ganz bestimmt nicht bei ihm. Daß er kein Ersatz für Franz war, hatte ich ziemlich schnell begriffen. Er mochte keine Hanfseile. Und trotzdem konnte ich ihn nicht so einfach wieder hergeben. Wo war er jetzt? Und wenn er nicht abhob? In der Frühstückspause konnte ich mich nicht dazu aufraffen, zum Telefon zu gehen. Allein bei dem Gedanken an ein endlos tönendes Freizeichen klumpte sich mir der Magen zusammen. Die Übelkeit ergoß sich wie warmes Öl durch die Eingeweide. Und wenn er tot war? Ich verschob den Anruf in die Mittagspause. Auch dann spürte ich noch jeden Herzschlag, jedes Freizeichen stach mir durch das Trommelfell mitten in den Kopf. Aber Günther war daheim und wohlauf. Er klang noch ein bißchen verschlafen. Als er sich meldete, konnte ich nur noch
    »Gott sei Dank« flüstern. Ich wollte ihm von Herrn Genardy erzählen. Aber der schien mir plötzlich nicht mehr wichtig genug, um Günthers:
    »Was ist denn los?« zu beantworten. So fragte ich nur, ob er etwas Neues über Hedwigs Tochter erfahren habe. Hedwig war wieder nicht zur Arbeit gekommen. Aber Günther wußte keine Neuigkeiten. Nachdem ich aufgelegt hatte, rief ich bei Hedwig an. Ich hatte mir das am Vormittag schon überlegt, daß ich mich einmal bei ihr melden müßte und was ich ihr sagen könnte. Es war ein merkwürdiges Gespräch, die meiste Zeit schwiegen wir. Nur einmal brach etwas aus Hedwig heraus.
    »Als ich die Beschreibung geben sollte«, sagte sie,»da wußte ich nicht einmal, was sie anhatte. Ich mußte im Schrank nachsehen und dann noch im Wäschekorb. Und auch danach wußte ich es nicht genau. Aber inzwischen hatte ich Zeit. Ich habe mir ihre Sachen angesehen. Es fehlt eine Jeans, eine ganz normale, einfache Jeans. Sie war noch fast neu. Vielleicht erinnerst du dich, Sigrid, ich habe ihr die Jeans erst vor ein paar Wochen gekauft. Ich habe sie dir noch gezeigt.« Ich erinnerte mich daran.
    »Und ein Pullover mit langen Armen«, fuhr Hedwig fort,»ein ziemlich dicker, hellblauer Pullover. Darunter hat sie wahrscheinlich noch ein T-Shirt an, da bin ich mir aber nicht ganz sicher. Sie muß ein Paar dunkelblaue Schuhe tragen und ein Donnerstag-Höschen.« Ich erinnerte mich auch an das Höschen. Nicole und Denise besaßen die gleichen. Hedwig und ich hatten die Höschen vor einiger Zeit in der Abteilung für Kinderbekleidung entdeckt und fanden sie ganz witzig. Sieben Höschen in einer Packung, auf jedem war ein anderer Wochentag und ein Tiermotiv aufgedruckt. Hedwig hatte zwei Packungen gekauft, ich eine. Später dann noch eine, weil Frau Kolling mich darum gebeten hatte. Hedwig hatte gesagt:
    »So bringe ich sie vielleicht dazu, jeden Tag ein frisches Höschen anzuziehen. Manchmal ist sie ein richtiger Dreckfink, immer muß ich ihr hinterher sein, damit sie frische Wäsche anzieht.« Ein Donnerstag-Höschen! Da kam ein Laut durch das Telefon wie ein trockenes Schluchzen.
    »Weißt du, was merkwürdig ist«, sagte Hedwig,»ihr Anorak hängt hier im Flur. Den hat sie nicht angezogen. Sie kann nicht vorgehabt haben, weit vom Haus wegzugehen. Es hat doch geregnet. Und es war auch so frisch draußen. Oder bilde ich mir das ein?«
    »Nein«, antwortete ich,»das bildest du dir nicht ein. Es hat viel geregnet, und es war sehr frisch draußen.« Bevor ich auflegte, meinte Hedwig noch, daß sie wahrscheinlich morgen oder übermorgen wieder zur Arbeit kommen würde. Der Doktor habe sie zwar für die ganze Woche krankgeschrieben, aber sie könne nicht allein in der Wohnung herumsitzen.
    »Das Warten macht mich ganz verrückt«, sagte sie. Nach dem Gespräch mit Hedwig war ich ziemlich durcheinander. Auf der einen Seite erleichtert, daß bei uns offensichtlich alles in Ordnung war. Daß es vielleicht sogar mit der Zeit etwas besser werden würde. Hundert Mark mehr im Monat. Auf der anderen Seite fühlte ich mich so mies, so schäbig und gemein, daß ich überhaupt noch an solche Dinge wie Geld denken konnte. Hedwigs Stimme ging mir nicht aus

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