Der stille Herr Genardy
dasitzen müssen, mit roten Augen, einem Stein anstelle des Herzens, mit dieser Leere im Kopf, die sich nur ganz allmählich mit Schmerz füllt, normalerweise. Aber ich saß nur da und zerbrach mir den Kopf darüber, ob ich einen Mann im Haus hatte oder nicht. Jedesmal, wenn in der Küche der Kühlschrank zu summen begann, zuckte ich zusammen. Bevor ich den Rolladen hinunterließ, schaute ich mir das Auto noch einmal an. Auf der anderen Straßenseite war eine Lampe, es war alles deutlich zu erkennen. Die hellen Flickstellen im Lack, Spachtelmasse auf Rostlöchern. Er konnte unmöglich schon eingezogen sein. Maler stehen schließlich nicht auf Abruf bereit. Und neue Möbel haben Lieferzeiten. Er konnte sich doch erst am Morgen um alles gekümmert haben. Was machte er denn da oben, warum rührte er sich nicht? Kurz vor zehn hielt ich es nicht mehr aus. Ich wollte eigentlich nur in den Keller, mich um die Wäsche kümmern, mich für die Nacht fertig machen, aber dann stand ich plötzlich vor der Treppe nach oben. Mir rauschte das Blut in den Ohren. Obwohl ich mir tausendmal sagte, es ist nur eine Treppe, und da oben ist nur eine Tür. Und hinter der Tür ist entweder gar keiner oder nur ein Mann, ein freundlicher, netter, älterer Herr, kein Henker und kein Folterknecht, kein Ungeheuer. Meine Füße waren mit Blei gefüllt und die Beine mit Eisenspänen. Eine Stufe hinauf und noch eine. Ab der vierten Stufe begann der Knick, aber die Tür konnte ich vorher schon sehen. Sie stand einen Spalt offen, ein dunkler Spalt, es brannte kein Licht im oberen Flur. Das gibt es doch nicht, er wird doch nicht im Dunkeln sitzen? Warum steht die Tür auf? Es war gespenstisch, als ob ich nachts über einen Friedhof laufen sollte. Nein, es war schlimmer. Es war, als ob hinter dem dunklen Türspalt der Braune auf mich wartete, die Hand mit dem Hämmerchen schon erhoben. Während ich noch überlegte, ob ich weiter hinaufgehen und vielleicht anklopfen sollte, ob ich überhaupt näher an den dunklen Spalt herangehen wollte – oder konnte! –, ging die Tür ganz von selbst weiter auf. Gleichzeitig hörte ich ein Geräusch, nicht sehr laut, nur so ein leichtes Schaben. Es waren jedenfalls keine Schritte. Und dann stand Herr Genardy in dem dunklen Viereck. Er schien mir viel größer als sonntags. Wahrscheinlich nur, weil ich zu ihm hinaufsehen mußte. Er kam langsam die Treppe hinunter und auf mich zu. Er trug eine braune Cordhose und ein dunkles Wollhemd. Und er lächelte. Ich konnte es deutlich sehen, obwohl sein Gesicht im Schatten lag. Und weil sein Gesicht im Schatten lag, wirkte sein Lächeln wie die Fratze eines Dämons. Ich hielt ganz unwillkürlich die Luft an, und ich glaube, mein Herz setzte für einen Moment aus. Er zog die Tür hinter sich zu. Ich ging ganz automatisch rückwärts die paar Stufen wieder hinunter. Gelähmt vor Angst, o ja, in dem Augenblick wußte ich, was das bedeutet. Da konnte der Verstand sich noch soviel Mühe geben. Dann standen wir uns in der Diele gegenüber. Mein Herz pumpte einmal, überschlug sich im luftleeren Raum, pumpte wieder. Ich überlegte krampfhaft, was ich antworten sollte, wenn er mich fragte, was ich denn auf der Treppe gewollt hätte. Einen Blick in die Höhle des Löwen werfen, kleines Mädchen? Ein bißchen Pingpong mit dem eigenen Herzen spielen? Aber er sagte nur:
»Dann will ich mal wieder.« Und er lächelte immer noch, im hellen Licht der Dielenlampe war es ein gütiges, ein verständnisvolles, ein fast besorgtes Lächeln.
»Ist Ihnen nicht gut, Frau Pelzer?« fragte er. Sollte ich nicken oder den Kopf schütteln? Wie beantwortet man so eine Frage, wenn man nicht reden kann? Und wenn man nicht zugeben will, daß das Herz irgendwo zwischen den Gedärmen schlägt? Jetzt reiß dich doch zusammen, Sigrid! Es ist alles in Ordnung. Frag ihn, was er da oben gemacht hat. Frag ihn einfach, ist doch logisch, daß dich das interessiert! Es kam nur eine Art Würgen.
»Danke, mir geht es gut.« Herr Genardy seufzte und zuckte mit den Achseln.
»Ja, wenn Sie meinen. Ich muß wirklich los. Es ist spät geworden, so lange wollte ich gar nicht bleiben.« Dann ging er zur Haustür. Ich stand da wie ein Ölgötze, bis ich den Motor hörte. Als das Motorgeräusch sich entfernte, holte ich meinen Schlüssel, steckte ihn ein und drehte ihn zweimal in der Haustür. Ich zog ihn auch wieder ab, das ging ganz automatisch. Franz hatte damals darauf bestanden, den Schlüssel immer abzuziehen. Die
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