Der stille Herr Genardy
schließlich nicht von einem Tag auf den anderen. Nicole erzählte, überschlug sich fast dabei. Sie und Denise hatten ihn zwischen fünf und sechs Uhr auf dem Balkon gesehen. Das Auto vor dem Haus gehörte ihm, da war sie ganz sicher. Sie waren damit zur Eisdiele gefahren, Herr Genardy hatte den Kindern ein Eis zu seinem Einzug spendiert. Von Malern oder einer Möbelspedition wußte Nicole nichts. Sie hatte auch nicht gesehen, daß er selbst irgendein Möbelstück ins Haus getragen hätte.
»Wir sind ja erst später hergekommen, Mama, da war er bestimmt schon fertig. Als wir nämlich kamen, war Frau Hofmeister draußen. Sie hat mich gerufen und gefragt, ob jetzt ein Mann bei uns einzieht. Sie hat gesehen, wie er ein paar Sachen reingetragen hat. Einen Tisch und Stühle und so. Und er hat gesagt, er wohnt jetzt bei uns. Und weggefahren ist er nicht.« Einen Tisch und Stühle! Nicole mußte da etwas mißverstanden haben. Während ich für uns eine Suppe aufwärmte, horchte ich nach oben. Man hört sehr gut, wenn oben jemand in der Küche umhergeht. Man hört von der Toilette aus auch, wenn jemand im Bad ist. Und wenn ich mich einmal früh genug hingelegt hatte, hatte ich oft den Fernsehton bei Frau Humperts gehört. Oben war es völlig still. Wahrscheinlich war er nur hier gewesen, um die Räume richtig zu vermessen. Hatte den Tisch und die Stühle schon einmal hergebracht, weil er die Renovierung überwachen und dabei nicht nur herumstehen wollte. Oder damit die Handwerker ordentlich Pause machen konnten. Es gab genug Gründe. Ich wohne jetzt bei euch, das sagt man halt so. Nicole bestand darauf, er müsse oben sein, er sei nicht weggegangen, und sein Auto stehe ja auch noch da. Sein Auto! Und sie war zusammen mit Denise eingestiegen. Hatte ich nicht nachmittags noch gedacht, daß Hedwigs Tochter vielleicht arglos in einen fremden Wagen gestiegen war? Und nirgendwo angekommen, einfach verschwunden!
»Was fällt dir eigentlich ein«, schimpfte ich los,»du kannst doch nicht einfach zu einem Fremden ins Auto steigen und mit ihm wegfahren.« Nicole verstand nicht, worüber ich mich aufregte. Sie wurde ein bißchen ärgerlich.
»Aber er wohnt doch jetzt bei uns. Und mit dem Schwiegersohn von Frau Humperts bin ich auch schon im Auto gefahren.«
»Das war ganz etwas anderes«, erklärte ich,»da war Frau Humperts dabei. Und wir kannten ihren Schwiegersohn schon lange. Und ich wußte genau, daß er dich mitgenommen hat und wo du warst. Mach das nicht noch einmal.« Darauf gab sie mir keine Antwort mehr. Ich schaute immer wieder zum Fenster hinaus. Sein Auto! Ein Postbeamter im höheren Dienst und solch eine Klapperkiste. Das paßte doch nicht zusammen. Und oben war alles still. Er konnte nicht mehr im Haus sein, ich hätte ihn hören müssen. Nicole hatte vermutlich vor dem Fernseher gesessen, und dabei war ihr entgangen, daß Herr Genardy das Haus verließ. Andererseits konnte man sich auf das verlassen, was Nicole sagte. Sie war auch imstande, ein altes Auto vom anderen zu unterscheiden. Ihr war beim letztenmal sofort aufgefallen, daß Günther sich ein anderes zugelegt hatte. Sogar die Marke hatte sie gekannt und zu einer Wortspielerei genutzt:
»Günther fährt in einem Ford fort.« Ich überlegte, ob ich kurz hinaufgehen sollte. Aber irgendwie war mir das peinlich. Wenn er doch in der Wohnung war, wollte ich nicht aufdringlich erscheinen oder neugierig. Als Nicole später im Bett lag, saß ich eine geschlagene Stunde lang nur da und horchte. Es war absolut nichts zu hören. Mir war ein bißchen unheimlich. So war mir früher immer gewesen, wenn Großmutter vor sich hinmurmelnd durch das Zimmer schlich und mich anschaute, als sei ich nicht da. Einmal war sie vor mir stehengeblieben. Ich hatte es ganz vergessen, jetzt fiel es mir wieder ein.
»Du mit deinem harmlosen Gesicht«, hatte sie gesagt,»du hast es faustdick hinter den Ohren. Das habe ich immer gewußt. Aber ich hätte nie gedacht, daß du so weit gehst. Wie konntest du dich mit dem Braunen einlassen? Der treibt die Menschen reihenweise zu den Schlachthöfen. Und du paktierst mit ihm! Jetzt tu bloß nicht so, als ob du von nichts eine Ahnung hast. Du weißt genau, was er treibt. Hast du keine Angst?« Oh ja, die hatte ich, die hatte ich immer gehabt. Auch wenn ich inzwischen wußte, daß Großmutter damals nur zu ihrer toten Schwester gesprochen hatte, es änderte nichts. Vielleicht war es einfach nur zuviel. Der vierte Tag! Normalerweise hätte ich jetzt
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