Der stille Herr Genardy
und erwürgt, ein elfjähriges Mädchen. Mein Gott, für das arme Ding mußte die Welt untergegangen sein, als er über es herfiel. Warum hatte ich Franz denn nicht tun lassen können, was ihm Spaß machte? Er hatte doch keinem damit geschadet. Er hatte nie etwas Schlimmes getan. Auf die Tatsachen reduziert, hatte er mich gestreichelt, Vorspiel nennt man das wohl. Daß er dabei manchmal ein bißchen ungeschickt vorging, ach Gott, das passierte anderen auch. Und dann hatte er sich auf mich gelegt oder mich auf den Schoß genommen. Warum hatte ich denn nicht einmal sagen können, daß ich es auch sehr schön fand, oder wenigstens einmal lächeln dabei. Nein, ich mußte erst in ein dunkles Waldstück gefahren werden, um der Sache etwas abzugewinnen. Er war doch auch über mich hergefallen, und ich hatte geschrien. Nicht vor Schmerz. Ja! Ja, genau so will ich es haben! Darauf habe ich gewartet. Günther schaute zur Decke hinauf, blies den Zigarettenrauch aus.
»Na«, meinte er,»das ging ja sehr schnell. Warum hast du mir bisher nichts davon gesagt? Wann ist er denn eingezogen?« Da wachte ich auf und huschte rasch in das Weib, das so stocksteif neben mir stand.
»Montag«, antwortete ich,»gleich am Montag. Ich habe es gar nicht mitbekommen. Er hat sich vorerst nur behelfsmäßig eingerichtet.«
»Ach«, sagte Günther. Es klang nicht erstaunt, es klang nach gar nichts. Ich machte uns Abendbrot. Er kam mit in die Küche, wollte jedoch nur einen Kaffee trinken. Während ich alles auf den Tisch stellte, erzählte ich der Reihe nach, von dem Klingeln am Sonntag nachmittag bis zum Mittwoch, als ich das Fenster in Nicoles Zimmer putzte. Danach hatte ich Herrn Genardy nicht mehr gesehen. Auch sein Auto nicht. Das stellte er seit Mittwoch in die Garage, und dann machte er das Tor zu. Ich hörte immer nur von Nicole, daß er da war, auch jetzt mußte er oben sein, saß wahrscheinlich still in einer Ecke. Aber nein, Sigrid, er sitzt doch nicht in einer Ecke. Er sitzt auf dem Stuhl bei der Wohnungstür, das weißt du doch. Er hat die Tür geöffnet, nicht sehr weit, nur einen kleinen Spalt. Damit er hört, was hier unten gesprochen wird. Er ist jetzt sicher wütend, weil du einen Mann bei dir hast. Das gefällt ihm nicht. Mit dir allein wird er jederzeit fertig. Komische Menschen machen keine Schwierigkeiten, die machen sich nur vor Angst in die Hose. Günther hörte sich das mit der üblichen Miene an. Ein paarmal sah ich ihn die Stirn runzeln, ganz flüchtig nur.
»Höherer Beamter«, meinte er anschließend. Es klang spöttisch.
»Kann ich mir vorstellen, daß deine Mutter begeistert von ihm ist. Vielleicht war er ebenso begeistert und hat sich deshalb so beeilt. Behelfsmäßig eingerichtet.« Günther schüttelte den Kopf, fragte:
»Warst du mal oben?«
»Warum?« fragte ich zurück. Er zuckte kurz mit den Schultern.
»Warum? Weil das dein Haus ist. Weil es dich rein theoretisch interessieren könnte, was er da oben treibt. Es ist ja schön, wenn du dich kulant zeigst und ihn schon vor dem Ersten in die Wohnung läßt, damit er renovieren lassen kann. Aber damit dürfte er ja inzwischen fertig sein. Da könnte er doch jetzt gemütlich im Haus seines Sohnes sitzen, mit seinen Enkelkindern spielen und in aller Ruhe abwarten, bis seine neue Einrichtung geliefert wird.«
»Er wollte noch aufräumen und den Rest selbst machen«, antwortete ich. Günther grinste und tippte sich leicht gegen die Stirn.
»Welchen Rest denn? Das gibt es doch nicht, daß ein Malerbetrieb einen Auftrag übernimmt und ihn dann nur zur Hälfte erledigt. Und was ist denn da großartig aufzuräumen? Man rafft die alten Tapeten zusammen, stopft sie in einen oder mehrere Säcke, fährt einmal mit dem Staubsauger über die Böden und bringt die Säcke auf den Müll. Hast du mal einen Staubsauger gehört oder Säcke gesehen?«
»Ich komme doch immer erst so spät heim.« Günther grinste immer noch, es wirkte gar nicht fröhlich.
»Vielleicht solltest du dich daran gewöhnen, deine Türen abzuschließen«, meinte er.
»Das tu ich schon«, sagte ich. Aber sie ließen sich nicht alle abschließen. Die Waschküche nicht, Nicoles Zimmer nicht. Da hatte ich selbst den Schlüssel abgenommen, damals, als sie den von der Waschküche verschwinden ließ. Ich hatte ihn irgendwo in den Schrank gelegt. Nicht einfach in den Schrank, in das Holzkästchen hatte ich ihn getan. Da war ich mir ganz sicher; ich tat doch alle Schlüssel, die ich nicht selbst
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