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Der stille Herr Genardy

Der stille Herr Genardy

Titel: Der stille Herr Genardy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hammesfahr Petra
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Nein! Ein paar Sekunden lang war er still, schaute mich nur von der Seite an, bohrte weiter.
    »Was ist es dann? Machst du dir Vorwürfe? Meinst du, du hättest etwas verhindern können? Das ist doch Blödsinn, Sigrid. Du bildest dir das ein.« Er schaute mich mit einem Blick von der Seite an, als sei er nicht sicher, ob er weitersprechen sollte. Das tat er dann, langsam und bedächtig:
    »Ich kann nicht nachvollziehen, wie das ist, wenn man an solche Dinge glaubt. Ich halte mich lieber an die Realität, da weiß ich wenigstens, woran ich bin. Aber es gibt eine Menge von solchen Spinnern. Frag mal die Polizei, wie viele Hellseher sich melden, wenn jemand verschwindet.«
    »Ich kann nicht hellsehen«, murmelte ich.
    »Wenn ich hellsehen könnte, wäre Franz nicht tot und mein Vater nicht und das Mädchen aus meiner Klasse nicht. Das waren Unfälle; wenn ich hellsehen könnte, hätte ich vorher gewußt, was passiert, und ich hätte es verhindern können.« Günther lachte rauh.
    »Immer vorausgesetzt, dein Franz, dein Vater und das Mädchen aus deiner Klasse hätten dir geglaubt. Was ich noch bezweifeln möchte.« Er lachte noch einmal, ein bißchen lauter diesmal. Dann begann er unvermittelt von seiner Frau zu sprechen.
    »Sie glaubt auch an solchen Scheiß. Zuerst waren es nur die Horoskope. Wenn sie im Express las, daß sie einen schlechten Tag hatte, setzte sie keinen Fuß vor die Tür. Aber die Horoskope reichten bald nicht mehr. Sie wollte es genauer wissen. In dem Jahr vor unserer Trennung hat sie ein Vermögen zu einer Kartenlegerin getragen. Ich hatte mir eingebildet, es sei alles in Ordnung bei uns. Hin und wieder mal ein Krach wegen Kleinigkeiten, das kommt überall vor, meist ging es ja auch nur um ihren Tick. Aber keine größeren Differenzen. Und dann geht sie zu dieser Trulla und läßt sich erzählen, wie unglücklich sie ist. Und plötzlich war sie todunglücklich. Es gab kein Argument mehr dagegen. Ich konnte tun, was ich wollte, es war alles falsch. Und dann kommst du und erzählst mir von deiner Uhr. Ich dachte, mich trifft der Schlag.«
    Wir saßen bis kurz vor zehn auf der Couch und sprachen miteinander, zum erstenmal über uns, über Gefühle, Ängste und ein bißchen auch über Franz. Über das Heft, das ich einmal in seinem Schubfach gefunden hatte. Über die kleinen Nichten, die so gern auf seinem Schoß sitzen mochten. Hoppe, hoppe Reiter, wenn er fällt, dann schreit er. Über das Bad am Samstag abend, die Bürste, die eigentlich gedacht war, den Rücken damit zu waschen. Zuerst starrte Günther mich nur ungläubig an, dann preßte er die Lippen aufeinander, senkte den Kopf und murmelte:
    »Und da willst du mit mir unter die Dusche?!« Später gingen wir zusammen in den Keller. Günther war anders, vielleicht weicher. Er brauchte selbst ein bißchen Halt. Unter der Dusche meinte er:
    »Warum hast du nie was gesagt?« Als ich ihm nicht antwortete, lächelte er.
    »Das erklärt ja einiges. Na ja, wenigstens liest du kein Horoskop und läßt dir nicht die Karten legen. Gegen einen Alptraum hin und wieder habe ich nichts einzuwenden. Und mit deinen Kaninchen hast du ja fast einen Treffer gelandet. In der Laube stand ein ganzer Haufen alter Kaninchenställe.« Dann drückte er mir die Flasche mit der Duschlotion in die Hand. Er grinste dabei, aber nur sehr flüchtig:
    »Aber jetzt wechseln wir lieber das Thema. Hier, bitte, wenn du dich revanchieren möchtest. Ich stelle mich gerne zur Verfügung.« Es kam eins zum anderen. Sehr bequem war es nicht unter der Dusche. Und ich war mit meinen Gedanken mehr bei der Tür zur Waschküche. Als wir wieder hinaufgingen, bemerkte auch Günther den fehlenden Schlüssel.
    »Wie alt ist dieser Genardy eigentlich?« wollte er wissen. Ich sagte, daß ich ihn etwa im gleichen Alter schätzte wie meine Mutter, achtundfünfzig, neunundfünfzig. Günther grinste.
    »Ach ja, er hat ja schon Enkelkinder. Vielleicht solltest du trotzdem einen Schlüssel auf die Tür stecken. Man kann nie wissen, was in einem älteren Herrn vorgeht. Mich hat es auch gleich in den Fingern gejuckt, als ich dich zum erstenmal sah, und nicht nur in den Fingern. Daß er so überstürzt hier eingezogen ist, gefällt mir nicht.« Wir lachten beide, es war alles wieder in Ordnung. Mir war ganz leicht, und wir lachten noch, als wir in die Diele kamen. Sonntags war ich immer noch so gelöst. Günther hatte keinen Dienst, er wollte den ganzen Tag bleiben. Beim Mittagessen schlug er vor, daß wir

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