Der stille Herr Genardy
geschickt, obwohl ich genau wußte, daß sie da nicht bleiben würde. Die kleinen Brüder, nicht wahr? Und bei uns war so viel Platz. Und bei uns war Herr Genardy, mit dem man sich so gut unterhalten konnte. Der sich sogar mit einer durchgedrehten Oma anlegte, um die Rechte der Kinder zu verteidigen, weil die Mutter ein komischer Mensch war und den Mund nicht aufbrachte.
An dem Samstag brach es einfach über mir zusammen. Als ich später den Kittel überzog, stellte ich mir vor, daß ich heimfuhr. Und alle waren sie da, alle außer Nicole, mein Großvater, mein Vater, das Mädchen aus meiner Schulklasse und Franz. Und Franz ließ Wasser in die Wanne.
»Kleine Mädchen baden doch so gerne«, sagte er. Franz setzte sich auf den Rand, nahm die Bürste und das Seifenstück und sagte:
»Da freu ich mich schon die ganze Woche drauf. Leg dich hin, Siggi. Ich wasch dich vorne ein bißchen. Ich bin auch ganz vorsichtig. Ich tu dir nicht weh.« Anke irrte sich, Franz war kein Trampel gewesen. Als Günther am Abend kam, hatte ich immer noch das Gefühl, daß ich neben mir stand. Nicole lümmelte sich der Länge nach auf dem Fußboden, den Teil der Zeitung vor sich ausgebreitet, auf dem das Gesicht von Nadine Otten abgebildet war. Kein lachendes Kindergesicht, eher verkniffen, verbittert. Daneben war noch ein kleines Foto, die Gartenlaube. Ich erinnerte mich vage, daß Nicole sich vorher auf der Couch herumgelümmelt hatte, daß der Fernseher eingeschaltet war, daß sie einen Werbespot mitträllerte. Sechstausend Mark, jeden Monat, ein Leben lang, oder eine Million in bar. Haben Sie Ihr Los schon? Nein, wir brauchen auch keins, wir haben einen neuen Mieter. Und wir gewinnen nie. Aber es bleibt bei der abgeschlossenen Tür. Ich hatte den Fernseher ausgemacht und ihr die Zeitung in die Hand gedrückt. Ich hatte gesagt:
»Hier, du kannst doch lesen. Lies das. Das Kind hat sich auch einen Dreck darum gekümmert, was seine Mutter sagte.« Sie war natürlich auch samstags bereits daheim gewesen, als ich kam.
»Wie oft habe ich dir jetzt schon gesagt, du hast im Haus nichts zu suchen, wenn ich nicht da bin?« Sie war purer Trotz, es fehlte nur, daß sie mit dem Fuß aufstampfte.
»Und warum nicht? Warum darf ich denn nicht hier sein? Ich wohne hier schließlich. Und bei Denise ist das Zimmer zu klein, wir können nicht immer bei Denise spielen. Und außerdem hast du gesagt, ich soll nicht allein im Haus sein. Ich war ja nicht allein, zuerst war Denise bei mir, und Herr Genardy war auch da.« Natürlich war Herr Genardy auch da, seit fast einer Woche schon. Und manchmal hörte ich sogar etwas von ihm. Anscheinend mußte er doch ab und zu mal aufs Klo oder brühte sich einen Kaffee auf. Er flog auch nicht immerzu durch die Wohnung, hin und wieder ging er ganz normal auf seinen Füßen über die Böden, kam die Treppe herunter, ging zur Garage, fuhr in seinem alten Auto davon. An dem Morgen nicht. Müssen Postbeamte nicht auch samstags arbeiten? Nicole und Denise waren schon am Vormittag hergekommen, nur zum Spielen. Sie hatten sich ein Stück Kreide mitgebracht und ein Springseil. Das hatte sie mir alles ganz bereitwillig erzählt. Zuerst mit Kreide Kästchen in die Garageneinfahrt gezeichnet, dann gehüpft. Das Garagentor war offen. Herr Genardy arbeitete in der Garage an seinem Wagen, säuberte wieder mal den Innenraum, diesmal nicht mit einer Bürste, sondern mit einem kleinen Handstaubsauger. Er mußte wirklich sehr an dieser alten Kiste hängen, wenn er sie derart liebevoll pflegte. Herr Hofmeister war im Vorgarten beschäftigt. Frau Hofmeister fegte den Gehweg sauber. Alles ganz normal. Die reinste Kleinstadtidylle. Als sie zum Hüpfen keine Lust mehr hatten, banden sie ein Ende des Seiles an den Zaun. Denise schwang das andere Ende, Nicole sprang. Dann wechselten sie sich ab. Und Denise verhedderte sich im Seil, schlug sich am Beton der Einfahrt ein Knie auf.
»Das hat vielleicht geblutet. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das geblutet hat, Mama.« Und Herr Genardy war nett und hilfsbereit, wie man es von ihm erwarten konnte. Er rief Denise zu sich ins Halbdunkel der Garage, nahm den Verbandskasten aus seinem Wagen, wies Denise an, sich auf den Fahrersitz zu setzen, stand selbst vor der offenen Tür, beugte sich ins Auto hinein und versorgte so das blutende Knie.
»Oben am Bein hatte Denise sich auch wehgetan, aber vorher schon. Da hatte sie sich am Jägerzaun gekratzt. Da hat Herr Genardy ihr auch einen Verband gemacht,
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