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Der stille Herr Genardy

Der stille Herr Genardy

Titel: Der stille Herr Genardy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hammesfahr Petra
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habe immer zu meiner Tochter gesagt, das Land braucht einen jungen Mann!), über Vulkanausbrüche und Flutkatastrophen dezent zu verstehen gegeben, daß man sich mit ihr auch über globale Themen unterhalten konnte, und ihn nicht zweimal bitten müssen. Herr Genardy trug wieder den braunen Anzug, dazu ein hellgrünes Hemd. Eine Krawatte trug er nicht, der Kragenknopf vom Hemd war offen. Und der Kragen war an der Kante verschlissen. Es fiel mir nur auf, weil Mutter unentwegt auf Herrn Genardys Hals schaute oder auf seine Hände. Er trug keinen Ring. Mutter trug drei: an der linken Hand den Ring, den Anke und Norbert ihr einmal zu Weihnachten geschenkt hatten, an der rechten die beiden Eheringe übereinander. Vor Jahren hatte sie von mir verlangt, daß ich mir den Ehering von Franz enger machen lassen sollte. Da hatte sie mir auch einen Vortrag über Anstand gehalten, weil ich sogar meinen eigenen abgelegt hatte. Günther stellte den Kuchen auf den Tisch und setzte sich zu uns. Ich holte den Kaffee, schenkte ein. Mutter war bereits dabei, ein Stück Torte auf Herrn Genardys Teller zu legen. Sie überschlug sich fast vor Eifer, war die Liebenswürdigkeit in Person. Herr Genardy hinten, Herr Genardy vorne. Dazwischen eine kurze Frage an Mara, ob sie lieber Sahnekuchen oder Erdbeertorte essen wollte. Mara wollte gar nichts essen, wollte lieber spielen. Ich holte ihr die alte Barbie-Puppe aus Nicoles Zimmer, brachte auch gleich eine Decke mit. Und da saß Mara dann, die Puppe zwischen den gespreizten Beinchen. Sie zog die Puppe aus und wieder an und wieder aus. Herr Genardy bemerkte wieder einmal, welch ein stilles, zufriedenes, welch ein reizendes Kind sie doch sei. Seine Enkelin sei ein richtiger Springinsfeld, sagte er, sie könne nicht zwei Minuten stillsitzen. Mutter fragte ihn nach Fotos und ob er sich schon ein wenig eingelebt habe. Von Günther und mir nahm sie gar keine Notiz. Es war mir ganz recht so. Herr Genardy ließ sich lang und breit über die Maler aus, die ihn nach halb getaner Arbeit schmählich im Stich gelassen hätten. Erwähnte noch einmal, daß er sich nur behelfsmäßig eingerichtet, daß er Mutter nur deshalb am Freitag nicht auf einen Kaffee zu sich gebeten habe.
    »Ich hoffe, Sie haben mir das nicht als Unhöflichkeit ausgelegt, Frau Roberts.« Fotos von seinen Enkelkindern hatte er noch gar nicht hier. Sonst hätte er sie Mutter gerne gezeigt. Und er war sicher, Mutter wäre begeistert gewesen. Es waren herrliche Aufnahmen. Sein Sohn war von Beruf Fotograf, arbeitete in der Hauptsache für Versandhäuser, machte die Aufnahmen für die Kataloge. Nicht immer ganz leicht, man mußte schon ein besonderes Gespür für Kinder haben, damit es lebendig wirkte. Mutter war sichtlich beeindruckt. Und was das Einleben betraf, Herr Genardy seufzte und erklärte, es sei doch eine große Umstellung für ihn. Er sei es nicht gewohnt, alleine zu leben. All die Jahre mit der Familie seines Sohnes unter einem Dach. Am Wochenende oft allein mit den Enkelkindern, damit Sohn und Schwiegertochter ein wenig Zeit für sich hatten, weil sein Sohn die Woche über meist unterwegs war. Und Mutter stimmte ihm zu, egal, was er sagte. Ich fand es peinlich. Es kam mir alles so falsch vor. Ich fühlte, wie allmählich die Beklemmung wieder in mir hochstieg. Da saßen wir auf der Terrasse, vier Erwachsene und ein kleines Kind. Und irgendwo im Wohnzimmer lag eine Zeitung mit einem Bericht über ein anderes Kind. Mißbraucht und erwürgt. Und Hedwig saß in ihrer Wohnung in Köln-Chorweiler, allein, ohne Hoffnung, mit der Gewißheit, daß sie ihre Tochter niemals wiedersehen würde. Ich war dankbar, daß Günther da war. Günther in seiner alten Jeans, das Hemd halb offen, die Ärmel aufgerollt, so lässig, so stark, so männlich, manchmal die Stirn runzelnd, manchmal gegen ein Grinsen ankämpfend. Günther, der an nichts glaubte, nur an die Realität. Er hatte zwei Stücke Kuchen gegessen, sich dann im Sessel zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen. Ich zählte die Härchen auf seinen Unterarmen, es half ein wenig. Als er mich ansah, dachte ich an die vergangene Nacht. Die Couch war für uns beide ein bißchen zu schmal gewesen. Als wir uns hinlegten, hatte Günther gesagt:
    »Ich fürchte, nebeneinanderliegen ist unmöglich. Versuchen wir es mal übereinander? Wenn du ein bißchen nachhilfst, kann ich vielleicht den Anker noch mal auswerfen.« Fünfeinhalb Jahre Treue über den Tod hinaus waren genug. Ich war Franz

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