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Der stille Krieg - McAuley, P: Der stille Krieg - The quiet war

Der stille Krieg - McAuley, P: Der stille Krieg - The quiet war

Titel: Der stille Krieg - McAuley, P: Der stille Krieg - The quiet war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul McAuley
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kritisieren und ihnen Alternativen entgegenzusetzen. Seither war die Debatte ständig im Gange gewesen. Vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Jeder konnte auf das Podium steigen und so lange seine Meinung verkünden, bis die Mehrheit des Publikums der Ansicht war, dass er lange genug gesprochen hatte. Zustimmung wurde durch überwiegendes Schweigen signalisiert – obwohl mindestens die Hälfte des Publikums die meiste Zeit über den Rednern gar keine Beachtung schenkte, sondern stattdessen in private Unterhaltungen und Streitgespräche vertieft war -, außerdem durch das Verteilen von Essensspenden
oder selbstgedruckten Flugblättern (Paris hatte die Druckerpresse wieder eingeführt, mit deren Hilfe Zeitungen und Bücher hergestellt wurden) oder durch den Rückzug in irgendein privates virtuelles Nirwana. Missbilligung begann mit Zwischenrufen und langsamem Händeklatschen, das von denjenigen, die dem Redner tatsächlich zugehört hatten, auf den Rest des Publikums übergriff. Die Leute hielten in ihren privaten Gesprächen inne, um ihre Abneigung gegen jemanden zum Ausdruck zu bringen, dem sie bis dahin keine Aufmerksamkeit geschenkt hatten. Redner, die auf Ablehnung stießen, sich jedoch weigerten, das Podium zu räumen, wurden von den freiwilligen Friedensoffizieren der Debatte zum Schein verhaftet, von der Bühne gezerrt und aus dem Gebäude geworfen. Manchmal mussten die Friedensoffiziere das mehrmals hintereinander tun, wenn der hinausgeworfene Redner das Gebäude durch einen anderen Eingang wieder betrat und erneut versuchte, auf das Podium zu gelangen.
    Zustimmung und Ablehnung schienen vollkommen nach dem Zufallsprinzip geäußert zu werden. Manche Redner wurden verhöhnt, sobald sie nur die Bühne betraten. Einem alten Mann hingegen, der in einer erfundenen Sprache eine Rede hielt, wurden zwanzig Minuten ehrfürchtigen Schweigens zuteil. Und die Zuhörer konnten die Redner jederzeit mit einer Frage oder einem Kommentar unterbrechen, wobei es nicht ungewöhnlich war, dass die Unterbrechung viel länger dauerte als die eigentliche Rede.
    Ken Shintaro war auf die Dauerhafte Friedensdebatte gestoßen, als er dem Mann gefolgt war, der ihr bête noire darstellte. Er hatte Marisa Bassi auf einem der grünen Märkte entdeckt, und es war für ihn eine Art coup de foudre gewesen. Von seinen Vorbereitungen her wusste er alles über den Bürgermeister von Paris. Er hatte stundenlange Aufzeichnungen
seiner Reden und eine dramatisierte Biografie über ihn gesehen, dennoch traf es ihn wie ein Schlag, ihn leibhaftig vor sich zu sehen. Von einer parallel verlaufenden Reihe des Marktes aus beobachtete er, wie der Bürgermeister umringt von einer eifrigen Menschenmenge zwischen den Buden umherging, wobei er Hohn- und Jubelrufen mit derselben Gelassenheit begegnete. Er schüttelte den Budenbesitzern die Hände und verkostete Austern, Käse oder Obstscheiben. Hier und dort trank er einen Schluck Kaffee oder Obstsaft und blieb immer wieder stehen, um allen zuzuhören, die mit ihm reden wollten. Schließlich ließ er das Gedränge des Marktes hinter sich. Gefolgt von einem halben Dutzend Beratern durchquerte er einen Park und betrat einen Tunnel in einer hohen, gewölbten Wand, der zum Grund eines Amphitheaters führte.
    Ken Shintaro folgte ihm unauffällig. Auf den trübe erleuchteten Reihen von Liegestühlen, die sich von der runden Bühne aus im Kreis nach oben zogen, saßen einige wenige Menschen. Manche von ihnen klatschten, als Marisa Bassi hereinkam, andere standen auf, legten die Hände an den Mund und buhten, doch die meisten schenkten ihm keinerlei Beachtung. Manche unterhielten sich in kleinen Gruppen oder betrachteten Lesetafeln, andere schienen zu schlafen, und der Rest sah einem Mann zu, der langsam im Scheinwerferlicht auf der Bühne im Kreis ging und mit müder, rauer Stimme über die verlorenen Träume von einem Utopia sprach. Tränen quollen ihm aus den Augen, rannen ihm langsam über die Wangen und funkelten in seinem grauen Bart. Seine verstärkte Stimme hallte unter dem hohen Dach wider und vermischte sich mit dem vogelartigen Gezwitscher des Publikums.
    Marisa Bassi sagte den Leuten um sich herum, dass er keine Rede halten, sondern nur zuhören wolle. Hin und wieder
überprüfe er gerne einmal die Temperatur der Debatte. Ja, genau wie ein Arzt – und warum auch nicht? Schließlich läge ihm stets die Gesundheit der Stadt am Herzen. Jemand fragte ihn, wann die Sabotage des Netzes repariert

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