Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
Vom Netzwerk:
schwarzen Pullover.
    »Gehen Sie hinein, er ist drinnen«, rief die Frau aus dem Geschäft. In einem hohen Vorraum mit einem Tisch stand der Bestatter über einen Gegenstand gebeugt und blickte flüchtig auf. Kaum, daß Zeiner und Ascher den Raum betreten hatten, begann er zu sprechen. Er sprach nervös und stotternd, in einem hektischen, nur undeutlich zu verstehenden Redefluß, an den sich Ascher erst allmählich gewöhnen mußte. Die Wände waren mit Bildern und Uhren bedeckt, darunter einer, auf der eine Mutter Gottes mit einem großen, roten Mantel dargestellt war, die Ascher genau betrachtete. Der Mantel erstreckte sich über das gesamte Zifferblatt, während der Kopf und die Hände nur klein ausgeführt waren. Auch ein altes Orchestrion fiel Ascher in dem Raum auf, der ihm trotz allem nüchtern vorkam. »Das Orchestrion habe ich selbst restauriert«, sagte der Bestatter zu Ascher. Er öffnete es und setzte es in Gang. Ascher sah zu, während er eine holprige lärmende Musik hörte, wie die hölzerne Spielwalze sich drehte. Inzwischen bezahlte Zeiner. Der Bestatter trug einen schwarzen Arbeitsmantel, zählte das Geld nach und ließ die Münzen und Scheine in seinen Taschen verschwinden. »Als wir noch keine Straßen hatten, fuhren die Knechte mit Fuhrwerken die Toten zur Kirche«, sagte er plötzlich. »Der Kirchenwirt von St. Ulrich hat eine Menge Toter zum Friedhof gefahren und der Roßknecht des Bauern Turracher ebenso …« Er machte eine kurze Pause, während das Orchestrion weiterspielte. »Bei einem Bauern sind die Bretter gelegen, auf die der Tote aufgebahrt wurde. Die haben sie geholt, den Toten gewaschen und angekleidet. In der Nacht haben die Verwandten und Nachbarn Wache gehalten. Die Männer sind getrennt von den Frauen gesessen und haben Karten gespielt, während die Frauen gebetet haben. Jetzt werden immer weniger zu Hause aufgebahrt, dort, wo die Gemeinden eine Totenkammer haben, holen wir die Verstorbenen ab und richten alles am Friedhof her …« Er blickte auf den Tisch, auf dem eine Taschenuhr lag. »Ich habe zwei Bestattungswagen, eine Sargtischlerei und einen verfliesten Obduktionsraum. Wo wir mit unseren Fahrzeugen nicht hinkommen, holt die Feuerwehr die Toten und bringt sie herunter.« Eine Haarlocke des vollen, nach hinten frisierten Haares fiel ihm in das Gesicht, und wenn er beim Sprechen seinen Mund öffnete, kamen Goldzähne zum Vorschein. Er war klein und korpulent und machte abrupte Bewegungen. Schaute er beim Sprechen ihn oder Zeiner an, dann hielt er seine Hände vor dem Bauch und rieb die Zeigefingerspitzen gegen die Daumenballen, daß es ein leises knarrendes Geräusch machte.
    »Falls Sie das Museum sehen wollen, hole ich Sie später ab. Ich muß mich beeilen«, sagte Zeiner.
    Nachdem er gegangen war, stellte sich der Bestatter vor. Er sei Historiker, Botaniker, Musikwissenschaftler, Restaurator, mehrfacher Erfinder und Präparator. Daneben sei er Gutsbesitzer, Gärtner, Student, Komponist, Maler und Kaufmann. Er zog den Arbeitsmantel aus, hängte ihn an einen Haken, schlüpfte in eine Jacke und trat in den Hof. »In zwei Stunden habe ich ein Begräbnis, daher muß ich mich beeilen«, sagte er. Ascher beobachtete seine Sprechweise genauer. Sobald er mit der Führung durch das Museum begonnen hatte, vollendete er die Sätze nicht mehr, sondern deutete deren Inhalt oft nur an. Die Gedanken rissen ab und wurden durch neue ersetzt und schienen Ascher wie Nachtfalter um ein Licht zu flattern; sie näherten sich, verweilten, stürzten ins Dunkle. Der Botanische Garten war neben der Eingangstür in einer Nische angelegt, die durch struppiges Gebüsch nach allen Seiten geschützt war. »Botanisch exotische Flora«, las Ascher auf einem weißen Schild. Einige Kakteen, Palmen und kümmerliche Pflanzen wuchsen aus der Erde. Von der gegenüberliegenden Seite des Hofes war das Arbeitsgeräusch der Mühlen zu hören. Ascher bemerkte, daß sich dort unter steinernen Arkaden alte Geräte und technische Artikel türmten. Der Bestatter nannte die Pflanzen, gab an, sie aus Nordamerika, Asien oder Kanada bezogen zu haben, und wies auf eine hohe Trauerweide, die er mit dem lateinischen Namen bezeichnete. »Ich beschäftige mich derzeit mit dem Lateinischen«, unterbrach er sich, um sofort zu erklären, daß er die Trauerweide selbst gepflanzt habe und ihre Schönheit und Größe die Bewunderung und das Erstaunen der Botaniker und Studenten hervorriefen, die ihn besuchten. Ascher erinnerte sich an

Weitere Kostenlose Bücher