Der stille Ozean
Gegend herum, nur wenn sich die Arbeit häufe, im Frühjahr und im Herbst – denn da wechsle die Wetterlage rasch, und dieser Belastung seien die Alten und kreislaufkranken Trinker nicht gewachsen – helfe er seinem Sohn aus. »Mein Sohn führt die Geschäfte, ich unterstütze ihn dabei«, schloß er. Das Polyphon spielte ein Wienerlied, dessen verschnörkelte Unschuld in einem seltsamen Kontrast zu den abgerissenen, halbverschluckten Sätzen des Bestatters stand. Und Ascher, der dem Bestatter bisher mit Gefühlen der Neugierde und der Vorsicht gegenübergestanden war, fühlte plötzlich Zuneigung. Er hatte den Eindruck, daß der Mann nichts verbergen konnte. Er war seinen Gedanken, Wünschen und Absichten so ausgeliefert, daß er nicht in der Lage war, sie zu verstecken. Auch schien es keinen Grund für ihn zu geben, das zu tun. »Ich widme«, sagte der Bestatter, »meine gesamte Zeit dem Museum, und wissen Sie, welchen Dank ich dafür habe?« Obwohl er den Landesamtspräsidenten, einen Volkskundeprofessor und Politiker, persönlich eingeladen habe, ihn und sein Museum zu besuchen, habe dieser es, sogar auf die Beteuerung hin, er werde es sicher nicht bereuen, abgelehnt. Der Landeshauptmannstellvertreter wiederum sei in der Wahlzeit im Gasthaus in Maltschach gesessen, und er habe ihm über einen Arbeiter schriftlich »Post geschickt«, er möge das Museum besichtigen, dieser habe jedoch die Antwort »ausrichten lassen«, er habe keine Zeit. Aber Zeit genug, um im Gasthaus zu sitzen, ereiferte sich der Bestatter, indem er die Stufen zum nächsten Stockwerk hinaufstieg, habe er schon gehabt! An den Wänden sah Ascher eine Insektensammlung, die von einem Volksschullehrer um die Jahrhundertwende angelegt worden war. Unter jedem Insekt waren in zierlicher Handschrift der Name und der Fundort angegeben. An manchen Nadeln steckten so kleine Tiere, daß sie nur als Punkte wahrzunehmen und unter der Lupe zu erkennen waren. Noch dazu war es so dunkel, daß Ascher, der hinter dem Bestatter herging, zumeist nach den Stufen Ausschau hielt, um keine zu verfehlen. Im ersten Stockwerk hing eine Fotografie eines Lehrers im Klassenzimmer. Auf eine kleine Schiefertafel war in Kurrentschrift: »Dritte Klasse« gemalt. Der Lehrer war, wie auch die Schüler, glatzköpfig, trug einen Zwicker und einen Bart und hielt die Hände verschränkt. Es war eine gemischte Klasse, und Ascher entdeckte, daß alle Kinder barfuß waren. Zum ersten Mal ließ sich der Bestatter Zeit. Er wies auf die selbst verfertigten Bilder, die gerahmt an der Wand hingen, und machte Ascher auf die Stellung der Augen aufmerksam, die dem Betrachter überallhin zu folgen schienen.
An einer Tür war eine Tafel mit der Aufschrift: »Das Entfernen von der Führung ist polizeilich verboten« befestigt. Welche Energien mußte der Mann aufgewendet haben, um seiner Leidenschaft nachzugehen, dachte Ascher, welche Ängste und Befürchtungen hatte sie in ihm geweckt, jedes neue Stück mußte seinen Ehrgeiz wieder angefacht haben, schließlich hatten die Dinge ihn mehr und mehr in Anspruch genommen und vereinsamt. »Den Großteil der Gegenstände, die Sie gesehen haben, haben die Menschen weggeworfen«, sagte der Mann. Er sei mit Leib und Seele Bestatter. Er vertraute Ascher an, daß ihm im Laufe seiner vierzigjährigen Bestattertätigkeit zwölf Fälle von irrtümlichen Beerdigungen Lebendiger bekannt geworden seien. Er habe das daraus geschlossen, daß die nachträglich ausgegrabenen Skelette auf dem Bauch gelegen seien. Er könne die Garantie dafür abgeben, daß ihm kein einziger solcher Fälle passieren hätte können. Übrigens habe er den Landessanitätsdirektor anläßlich einer Führung darauf aufmerksam gemacht. Der Landessanitätsdirektor und Hofrat habe jedoch nur geschwiegen. »Das war alles, was ihm dazu eingefallen ist«, ergänzte er. Er forderte Ascher auf, sich in ein großes, grün gebundenes Buch einzutragen und blickte ihm dabei über die Schulter. Ascher schrieb seinen Namen und trug unter der Rubrik »Beruf«, die mit einer dünnen roten Linie von den anderen getrennt war, Naturwissenschaftler ein. »Dann werden Sie sich naturgemäß für meine Präparate interessieren. Dort müssen Sie Ihre Adresse eintragen«, sagte der Bestatter und deutete auf eine andere Rubrik. Als er gelesen hatte, woher Ascher kam, beugte er sich über seine Schulter und sagte geschmeichelt: »Ach, so weit kommen Sie her?« Ohne weiteres hätte Ascher sich mit einem falschen Namen,
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