Der stille Sammler
Leitmotiv ‹ und einfach nur › Motiv ‹ .«
»Keine Ahnung«, räumte sie ein, strich erneut über ihr Muttermal und lächelte zum ersten Mal, seit wir uns am Vortag verabschiedet hatten, auch wenn sie es immer noch nicht richtig hinbekam, mir in die Augen zu schauen.
Ich nahm an, dass es mit dem Ärger zu tun hatte, den Morrison ihr machte, weil sie keine Genehmigung eingeholt hatte, mich oder Sig bei den Ermittlungen hinzuzuziehen. Wir unterhielten uns ein wenig über das Büro, über Leute, die wir beide kannten, tranken ein bisschen, redeten noch ein wenig mehr und aßen unsere Salate, als Cheri sie serviert hatte. Coleman nahm sich viel Zeit, bis sie zur Sprache brachte, weshalb sie sich so schnell bereit erklärt hatte, sich mit mir zu treffen. Der Grund war jedenfalls nicht der, dass sie sich in meinem Ruhm sonnen oder sich entschuldigen wollte, sich nicht an die Regeln gehalten zu haben. Nein, es sollte eine Linie gezogen werden, und sie wollte mich auf ihrer Seite wissen.
»Was halten Sie von Lynch?«, fragte sie. Diesmal schien sie mich mit ihren Blicken zu durchbohren, als wollte sie meine Reaktion sehen, bevor ich antwortete.
Das eigenartige Gefühl, das ich oben am Pass gehabt hatte, kehrte zurück – jenes beängstigende Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, doch ich versuchte, es zu ignorieren. »Narzisstisch, gewissenlos, widerwärtig«, antwortete ich. »Ein Soziopath durch und durch. Obwohl nicht ganz der, den ich erwartet hätte.«
»Wie denkt Weiss über ihn? Ich habe sein Profil des Route-66-Killers in Criminal Profiling gelesen. Passt es zu Lynch? Was meint er?«
Zum ersten Mal an diesem Tag konnte ich lächeln, ohne mich dazu zwingen zu müssen. »Sie sollten schon den ganzen Titel aufsagen, um Eindruck zu machen. › Theorie und Praxis des kriminellen Profiling, ein interdisziplinärer Denkansatz vermittels Fallstudien. ‹ Sigmund flippt aus, wenn er erfährt, dass es jemand gelesen hat.«
»Sigmund? Ich dachte, er heißt David?«
»So heißt er ja auch, aber wir kennen uns eine Ewigkeit, seit er in den Siebzigern die Abteilung für Verhaltensanalyse des FBI mitgegründet hat. Wir nannten ihn Sigmund, nach Sigmund Freud. Jeder kriegt irgendwann seinen Spitznamen.«
»Schon möglich. Jedenfalls, ich habe gesehen, wie Sie beide sich gestern unterhalten haben. Und da habe ich mich gefragt, ob er schon eine Meinung über Lynch hat.«
Ich hörte, wie meine inneren Alarmglocken schrillten. Plötzlich war mir klar, dass sie Morrison nicht aus Versehen übergangen hatte. Außerdem war ich die Einzige, an die sie sich jetzt noch wenden konnte, nachdem Sigmund nach Hause geschickt worden war. Was mochte der Grund dafür sein?
Ich tauchte die Oberlippe in meinen Drink, während ich überlegte, was ich antworten sollte. Ich würde ihr jedenfalls nicht verraten, dass Sigmund sich rundheraus geweigert hatte, eine Meinung zu äußern. »Ich weiß nicht«, sagte ich schließlich. »Es gab einige Überraschungen.«
»Zum Beispiel?«
»Wir hatten mit einem kräftigeren Täter gerechnet, der imstande war, fünfzig Kilo schwere Leichen über Kopf in seinen Laster zu wuchten. Und ich habe ihn mir intelligenter vorgestellt. Aber das alles war natürlich reine Spekulation. Warum fragen Sie?«
Coleman atmete tief durch, griff in ihre Tasche und brachte ein ziemlich dickes Gutachten zum Vorschein, das sie so behutsam vor mich hinschob, als könnte es jeden Moment explodieren. Dann sprudelte es aus ihr hervor. »Weil ich glaube, dass wir es mit einem falschen Geständnis zu tun haben.«
Man navigiert nicht vierzig Jahre lang durch die Politik des FBI , ohne zu wissen, wo es langgeht. Die Kollegialität, die ich gegenüber Laura Coleman entwickelt hatte, löste sich in Luft auf, als mir die Bedeutung ihrer Aussage dämmerte.
Ihre Theorie war völliger Schwachsinn.
Und das sagte ich ihr auch mit deutlichen Worten.
10.
»… das also ist der Grund, weshalb Sie Morrison hintergangen und mich und Weiss hinzugerufen haben, ohne sich vorher seine Genehmigung zu holen! Sie waren bei Morrison, und er hat Ihnen die Geschichte nicht abgekauft. Dann haben Sie versucht, Weiss frühzeitig auf Ihre Seite zu ziehen, aber er wollte nicht über den Fall reden, ohne vorher Lynch gesehen und eingeschätzt zu haben. Und jetzt, nachdem Weiss aus der Sache raus ist, versuchen Sie, mich für Ihre Geschichte zu benutzen. Haben Sie allen Ernstes geglaubt, Sie könnten diese Nummer mit mir abziehen?«
»Bitte …«,
Weitere Kostenlose Bücher