Der stille Sammler
sagte Coleman leise.
Ich war noch nicht fertig. »Und das Schlimmste ist, Sie lassen mich den Vater des Opfers anrufen und ihm erzählen, dass wir den Kerl haben!« Ich stellte mir Zach vor, der mit einem laminierten Foto seiner toten Tochter im Hotel saß. Die Vorstellung befeuerte meine Wut. Ich beugte mich über den schmalen Tisch und fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Man zieht nicht den Vater des Opfers in eine solche Sache hinein. Man zeigt ihm nicht die Überreste seiner vergewaltigten und zu Tode gefolterten Tochter. Man erzählt ihm nicht, man hätte den Killer endlich gefunden, und sagt ihm am nächsten Tag: Tut uns leid, Mister, war alles ein Irrtum. Haben Sie eine Ahnung, was dieser Mann durchgemacht hat? Was es bedeuten würde, ihm zu sagen, es war alles ein Fehler, unsere Schuld? Nein, Coleman. Lynch ist unser Mann. Er ist der Killer.«
»Würden Sie mir bitte erst mal zuhören, Agent Quinn?«
Da mir im Moment nichts einfiel, was ich ihr noch hätte sagen können, ohne mich zu wiederholen, hielt ich den Mund, leerte meinen inzwischen verwässerten Wodka und begnügte mich damit, sie wütend anzustarren, während ich meine Hände unter dem Tisch versteckte, wo niemand sehen konnte, wie ich nervös an meinen Nagelhäuten zupfte. Wahrscheinlich hatte ich mich in den vergangenen Jahren etwas zu sehr gehen lassen und war es nicht mehr gewöhnt, Stresssituationen wie diese besonnen zu meistern.
Coleman deutete mein Schweigen als vorübergehende Einwilligung. Sie entschuldigte sich, meine Intelligenz beleidigt zu haben, aber das war die geringste meiner Sorgen. Dann schlug sie das Gutachten auf, das vor mir auf dem Tisch lag, und blätterte zu einer zweispaltigen Seite. Die eine Spalte enthielt das von Sigmund erstellte Profil des Route-66-Killers, die andere das Profil von Floyd Lynch.
»Ich habe neunzehn Punkte gefunden«, sagte sie. »Ich habe die Tafel benutzt, die David Weiss als Schablone angelegt hat, und sage und schreibe neunzehn Punkte gefunden, die nicht übereinstimmen.«
Ich überflog die Seite und sah eine Reihe von Unstimmigkeiten, die ich bereits selbst an Lynch entdeckt hatte. »Okay, er ist physisch nicht so stark, wie wir angenommen hatten. Er scheint auch nicht so gut organisiert zu sein und weniger wortgewandt, als wir dachten. Schön, haben wir uns geirrt. Wir liegen nicht immer hundert Prozent richtig.« Ich warf das Gutachten zurück auf den Tisch. »Abgesehen davon, Weiss selbst schreibt in seinem Buch, dass nicht Täterprofile zu Verurteilungen führen, sondern Beweise. Und wir stecken bis zum Bauchnabel in Beweisen. Lynch hat Tagebücher geführt und darin sämtliche Details festgehalten. Und er hat uns zur Leiche von Jessica Robertson geführt.«
Coleman wurde ungeduldig. »Ja, ja, das weiß ich alles.«
»Das Sperma auf Jessicas Leichnam stammt von Lynch. Er hatte ein mumifiziertes Opfer in seinem Laster – eine Frau, die er auf die gleiche Weise getötet und der er die gleichen postmortalen Verstümmelungen zugefügt hat. Er weiß von den Ohren. Er weiß sogar, dass wir diese Information vor den Medien zurückgehalten haben. Niemand, absolut niemand, der nicht auf die eine oder andere Weise mit dem Fall zu tun hat oder hatte, weiß von den Ohren.«
Coleman sah aus, als wäre sie am liebsten über den Tisch gesprungen, um mich zum Schweigen zu bringen. »Das genau ist ja der Punkt!«, sagte sie. »Er weiß nicht , wo die Ohren sind!«
Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Was?«
»Erinnern Sie sich, was Weiss über die Bedeutung von Trophäen schreibt? Dass sie für den Killer unbezahlbare Schätze sind? Und Lynch konnte mir nicht verraten, wo er die Ohren versteckt hat. Er sagt, er hätte es vergessen.«
»Er will es Ihnen nicht verraten.«
»Warum sollte er? Alles andere hat er uns erzählt. Haben Sie eine Erklärung dafür?«
»Er will die Ohren behalten. Selbst wenn er lebenslänglich ins Gefängnis muss, weiß er stets, wo sie sind, und kann sie als sein ganz persönliches Eigentum betrachten.«
»Das haben die anderen auch gemeint, als ich es ihnen gesagt habe«, erwiderte sie. »Morrison, der Bundesanwalt, der Staatsanwalt, sogar Royal.«
»Royal …?«
Coleman hatte sich verplappert, und ich hatte sie erwischt. Sigmund hatte recht gehabt: Sie und Hughes hatten was miteinander. Hoffentlich kam sie nie auf den Gedanken, undercover zu arbeiten.
»Ich … ich meinte Hughes«, sagte sie verlegen. »Den Pflichtverteidiger.« Sie fing sich wieder und fuhr fort:
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