Der stille Sammler
anders war.
»Du bist nackt«, stellte er schließlich fest, als er sich neben mich auf das Sofa setzte und die langen Beine übereinanderschlug. Halb verrückt vor Freude, dass das ganze Rudel beisammen war, starteten die Möpse einen erneuten Angriff, diesmal auf Carlos Schienbeine. Er scheuchte sie weg.
Ich sah meine allerletzte Chance gekommen, die Wahrheit zu sagen. Vor meinem geistigen Auge blitzte das Bild des sterbenden Verrückten auf, von oben bis unten voller Blut, den Mund zu einem letzten Röcheln geöffnet. Die Ereignisse liefen im Zeitraffer vor mir ab, und ich versuchte mir ein anderes Ende vorzustellen. Doch es gab kein Zurück.
Ich schlug die Augen auf. »Ich bin über einen Felsblock gestürzt und habe Sand in die Haare gekriegt«, sagte ich, wobei ich mit der Nase über Carlos Wange strich, seinen Oberschenkel tätschelte und mich fragte, wie lange es wohl dauern würde, bis jemand den Van im Flussbett fand. »Ich war schrecklich tollpatschig. Ich bin froh, dass du nicht da warst. Du hättest dich wahrscheinlich halb totgelacht.«
Anstatt zu lächeln schüttelte Carlo den Kopf und deutete auf meinen Arm. »Muss ja ein heftiger Sturz gewesen sein. Ist das ein blauer Fleck?«
Ich stand auf und ging zum Küchenbereich, stellte mich auf die Zehenspitzen und benutzte die Tür des Mikrowellenherds als Spiegel, um den sichelförmigen Bluterguss auf meinem Oberarm noch einmal in Augenschein zu nehmen und mich zu überzeugen, dass er nicht wie eine Bisswunde aussah. Dann zerwühlte ich mein noch feuchtes Haar, sodass es die Schwellung auf meiner Stirn verbarg, die sich dunkel verfärbte. Außerdem verschaffte es mir zusätzliche Zeit, an meinem Alibi zu arbeiten.
Carlo trat hinter mich. Ich konnte seinen fragenden Blick im Glas der Mikrowellentür sehen. Ich war überrascht, wie nervös mich das machte.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Ist noch Kaffee übrig?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage und schnüffelte in Richtung des Monsters von Cuisinart, das nicht die geringste Ähnlichkeit mit einer normalen Kaffeemaschine besaß, sondern eher in eine Filiale von Dunkin Donuts gepasst hätte.
»Ich glaube schon. Ich hol dir eine Tasse.«
Er nahm eine von Janes bayrischen Porzellantassen aus dem Schrank – die Sorte mit den kleinen Füßchen am unteren Rand – und schenkte mir einen schwarzen, kalten Kaffee ein. Währenddessen nahm ich meinen Rucksack und schüttete die Steine ins Spülbecken, um sie abzuwaschen. Die Wasserflasche fiel ebenfalls heraus. Ich war froh, dass ich mit dem Rücken zu Carlo stand und ihm der Blick auf die Flasche verwehrt war, während ich weiteres Blut abwusch.
Ich konzentrierte mich auf meine Hände, damit sie nicht zitterten, als ich mich umdrehte, um die Tasse von ihm entgegenzunehmen. Ich war nicht ganz erfolgreich. Die Tasse klapperte zwar nicht auf dem Unterteller, als ich trank, doch ich musste der Bewegung meines Kopfes folgen, der sich mit beängstigender Geschwindigkeit ganz leicht vor und zurück bewegte. Ich war kein Weichei, aber auch keine Psychopathin, und nur ein Verrückter kann einen anderen Menschen töten, ohne irgendeine Nachwirkung zu zeigen. Ich hatte alle Mühe, den Schock zu verbergen. Zum Glück bemerkte Carlo nichts von alledem, denn er hatte sich an das Spülbecken gestellt und beendete das Abwaschen der Steine, die ich dort hatte liegen lassen.
»Ich kann nicht glauben, dass du dir die Mühe gemacht hast, die Steine den ganzen Berg hinaufzuschleppen, nachdem du gestürzt bist«, sagte er mit dem Rücken zu mir.
»Willst du damit andeuten, dass ich für eine so alte Braut in Topform bin?«, zog ich ihn auf und stellte die leere Tasse mit Unterteller auf den Tresen neben dem Spülbecken, um ihn zu beschäftigen. Dann ging ich, um meine Haare zu föhnen, obwohl sie bereits trocken waren. Hastig stieg ich in eine Jeans und zog mir eine Bluse über, bevor mir die blutige Wasserflasche einfiel, die ganz bestimmt Spuren im Rucksack hinterlassen hatte. Ich würde den Rucksack ebenfalls in die Waschmaschine stecken und mit Bleiche behandeln müssen.
Gerade noch rechtzeitig fiel mir der Umschlag wieder ein, als ich den Rucksack vom Tresen nahm. Ich warf einen raschen Blick zu Carlo, der sich mit einem Buch über das Leben von Ludwig Wittgenstein in seinen Sessel zurückgezogen hatte.
»Wenn du mich brauchst, Professa«, sagte ich, »ich gehe meine E-Mails checken.«
Er nickte geistesabwesend. Ich konnte nicht erkennen, ob er meine Worte
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