Der stille Sammler
registriert hatte oder nicht. Ich ging in mein Büro, setzte mich an den Schreibtisch, nahm den Umschlag hervor und schaute hinein in der Hoffnung, vielleicht einen Hinweis auf die Identität des Verrückten zu entdecken.
Was ich aus dem Umschlag zog, war eine unbeschriftete DVD und ein Foto, am Computer auf weißem Papier ausgedruckt.
Wahrscheinlich ein Porno, dachte ich und legte die DVD beiseite, um das Foto zu betrachten. Im ersten Moment war mir nicht klar, was ich vor mir sah. Mein Verstand weigerte sich, irgendetwas zu registrieren, als hätte es eine Art zerebralen Kurzschluss gegeben. Dann erkannte ich eine schlichte Wohngegend, saubere Bürgersteige, gepflegte Vorgärten und blühende Salbei-Büsche, die aussahen, als würden sie in lavendelfarbenen Flammen stehen.
Und eine Frau mit hochgesteckten weißen Haaren.
Mein Mundwinkel zuckte.
Ich starrte auf ein Foto von mir selbst.
Es dauerte eine Weile, bis der erste Schock verflogen war und ich begriffen hatte, dass der Angriff auf mich im Flussbett kein Zufall gewesen war. Ich schaute mir das Bild genauer an. Ich trug die Kleidung vom Abend zuvor, als Carlo und ich mit den Hunden spazieren gewesen waren. Ich hatte vorher lange geduscht, um den Gestank aus dem Büro des Gerichtsmediziners loszuwerden, und hatte hinterher das rote T-Shirt angezogen. Jemand musste an uns vorbeigefahren und mich fotografiert haben, ohne dass wir es bemerkt hatten. Ich zermarterte mir das Hirn nach dem weißen Van, konnte mich aber beim besten Willen nicht erinnern. Unsere hübsche, brave, ordentliche Mittelschicht-Siedlung war nicht besonders groß: Wenn sich auf der Straße zwei Wagen begegneten, herrschte bereits reger Verkehr. Ich hätte mich ganz bestimmt an einen heruntergekommenen weißen Van erinnert. Und erst recht an einen Kerl, der aussah wie der Hurensohn, den ich getötet hatte.
Ich nahm die DVD , die ich zunächst als Porno abgetan hatte, und schob sie in meinen Computer.
Während der PC hochfuhr, schloss ich die Tür zu meinem Zimmer, setzte mich wieder an den Schreibtisch und schaute mir an, was die DVD enthielt. Es war lediglich ein kurzer Clip – eine Nachrichtenmeldung aus der vorhergehenden Nacht über die Überführung von Lynch und meine Rolle bei den Route-66-Morden. Und für knapp eine Sekunde war ich zu sehen, im schwarzen Anzug, und mein Gesicht. Es war das offizielle Foto, das bei meiner Verabschiedung vom FBI aufgenommen worden war.
Ich dachte an den Mann, den ich getötet hatte. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen. Es war völlig unmöglich, dass er sich die Nachrichtensendung angeschaut und sie aufgezeichnet und zwei Stunden später das Foto von mir auf der Straße geschossen hatte. Nein, jemand anders musste dahinterstecken. Jemand, der mich kannte und wusste, wo ich wohnte.
Ich musste an die letzten Worte des Mannes denken, den ich getötet hatte. Unmittelbar vor seinem letzten Versuch, mich zu überwältigen, hatte er geflüstert: »Du bist tot.« Diese Worte waren mir absurd erschienen, geradezu lächerlich für einen Mann in seiner Situation. Aber vielleicht hatte er gar nicht sich selbst gemeint. Vielleicht hatte er von der Person gesprochen, die ihn beauftragt hatte. Das würde bedeuten, dass es noch nicht vorbei war.
Ich spielte den gesamten Ablauf in Gedanken noch einmal durch. Wie er mich aus seinem Van heraus beobachtet hatte bis zu dem Moment, in dem ich versehentlich seine Oberschenkelarterie durchtrennt und jede Chance verspielt hatte, mehr über ihn herauszufinden. Hatte das alles mit der Festnahme von Floyd Lynch zu tun? Mit meiner Beteiligung am Route-66-Fall? Oder war es ein unwahrscheinlicher Zufall?
Nein.
Jemand musste mich bereits vor dem Nachrichtenbeitrag gekannt haben, um mich bis zum Flussbett zu verfolgen.
Kein Zufall.
Es war ein geplanter Mordversuch gewesen. Ich hatte dem Kerl im Van die falsche Frage gestellt. Ich hätte ihn nicht fragen sollen, wo die Leichen der anderen Frauen waren. Ich hätte ihn fragen sollen: Wer hat dich geschickt?
Ich ging die Ereignisse im Flussbett immer wieder durch, kam aber zu keinem Ergebnis. Ich wusste nur, dass es etwas gab, das ich nicht wusste, und dieses Nichtwissen war gefährlich.
In Momenten wie diesen beschleicht mich ein eigenartiges Gefühl. Ich kann es nicht beschreiben, aber das Ergebnis ist jedes Mal, dass mich eine tiefe innere Ruhe überkommt. So auch diesmal. Als ich das Fach links in meinem Schreibtisch öffnete, wo ich den defekten Monitor und die
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