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Der stille Sammler

Der stille Sammler

Titel: Der stille Sammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Becky Masterman
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wenn sie Beute geschlagen haben.

16.
    Ich war noch immer erschüttert von den Erlebnissen am Tag zuvor und intensiv mit der Frage beschäftigt, wer den Mann, der mich umbringen sollte, beauftragt hatte und wie ich seine Identität herausfinden konnte. Trotzdem musste ich so tun, als würden Laura Colemans Ermittlungen in Sachen Lynch mich brennend interessieren. Also ging ich gleich nach dem Frühstück in mein Büro und legte die DVD in Colemans Gutachten. Die Mappe war beschriftet mit »Vernehmung Floyd Lynch, 12. Sitzung«. Weil der Fall so wichtig war, hatten sie sich nicht damit begnügt, das Verhör mitzuschneiden, sondern jede Sitzung auf Video aufgenommen. Das Datum war der 7. August, drei Tage bevor Coleman uns alle zusammengerufen hatte, um Jessicas Leichnam zu bergen.
    Um zu verhindern, dass Carlo etwas hörte, stand ich auf und schloss die Tür zu meinem Büro. Sicherheitshalber drehte ich die Lautstärke der PC -Lautsprecher so weit herunter, dass ich mich vorbeugen musste, um den Dialog zu verstehen.
    Das Video begann. Es zeigte einen leeren Raum. Eine gewöhnliche Verhörzelle, eine kleine weiße Kammer mit zwei Stühlen und ohne Tisch, hinter dem der Verhörte seine Körpersprache hätte verbergen können.
    Die Tür öffnete sich, und ein Gefängniswärter führte Lynch in den Verhörraum. Er trug orangefarbene Häftlingsgarnitur und Handschellen. Lynch schlurfte direkt zum weiter entfernten Stuhl, ganz automatisch. Nach wer weiß wie vielen Stunden in diesem Raum hatte er außerdem die unter der Decke montierte Minikamera entdeckt, denn er winkte in die Linse. Dann vergaß er die Kamera augenscheinlich wieder und hob die gefesselten Hände, um mit der Oberlippe über die Warze auf dem Handrücken zu streichen, wie er es bereits getan hatte, als wir am Mount Lemmon gewesen waren. Er zeigte kein Anzeichen von Schmerz, als er daraufbiss.
    Ich stoppte das Video und betrachtete ihn eingehender, als es mir am Pass neben dem Wrack mit Jessicas Leiche möglich gewesen war. Ich erinnerte mich an sein dunkles lockiges Haar, die leicht nach innen gekrümmte Nase und die Brille mit dem dünnen Drahtgestell. Jetzt bemerkte ich weitere Einzelheiten, zum Beispiel, dass seine Oberlippe weiter vorstand als der Kiefer. Fliehendes Kinn nennt man so was. An seinen Fingern erkannte ich, dass er dünne, beinahe zierliche Knochen besaß. Erneut fiel mir die scheußliche schorfige Stelle an seiner Wange auf, als würde er daran kratzen, und wenn er genug davon hatte, auf seiner Warze kauen. Und ich bemerkte seine abstehenden Ohren. Eine Schönheit war er nicht gerade.
    Ein paar Minuten später betraten Laura Coleman und Max Coyote den Raum. Ich konnte die beiden nicht sehen, aber Lynch begrüßte sie. Ich hörte das Quietschen des zweiten Stuhls auf dem Fußboden, als Coleman sich Lynch gegenübersetzte. Max blieb an der Wand neben der Tür stehen, die übliche Prozedur.
    Lynch erhob sich ein wenig, um sich zu verneigen, halbwegs respektvoll, ohne bedrohlich zu wirken, und setzte sich wieder. Er war der Einzige, den ich während des Verhörs sehen konnte. Ich stellte mir die beiden anderen vor, die vermutlich dasaßen wie Sozialpädagogen in einer Konferenz.
    Lynch hob die Hand und zeigte einen blutigen Fleck auf dem Handrücken. Versuchte er den Eindruck zu erwecken, dass er eine gewisse Kontrolle über die Leute besaß, die ihn gefasst hatten?
    Ich hörte, wie Max die Tür öffnete und mit dem Wärter draußen auf dem Gang sprach. Augenblicke später erschien er für einen kurzen Moment im Aufnahmebereich der Kamera, als er Lynch ein Kleenex reichte. Dann zog er sich wieder zurück auf seinen Platz neben der Tür. Lynch betupfte die Warze und ballte das Kleenex in der Hand zusammen, sodass das Blut nicht zu sehen war. Als er fertig war, ergriff Laura Coleman das Wort.
    Coleman: Guten Morgen, Mr. Lynch.
    Lynch: Guten Morgen, Agent Coleman.
    Coleman: Haben Sie gut geschlafen?
    Lynch: Ja, ganz gut. Die Zelle ist größer als die Kabine von meinem Truck. Soll ich Ihnen noch was verraten?
    Coleman: Was denn?
    Lynch: Ich hab nachgedacht. Mit Ihnen zu reden hat mich ’ne Menge nachdenken lassen. Ich glaube, ich hab mehr mit Ihnen geredet als mit sonst jemandem in meinem ganzen Leben.
    Coleman: Und woran liegt das Ihrer Meinung nach?
    Lynch: Bin kein großer Redner, schätze ich.
    Coleman: Haben Sie mit den Frauen geredet, Floyd?
    Lynch: Nein, nicht viel. Ich wollte nicht, dass sie reden. (Er schließt die Augen und beschreibt

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