Der stille Sammler
Gruppe von Leuten, wahrscheinlich ihre Familie: Mutter, Vater, Bruder und eine vielleicht fünf Jahre jüngere Coleman vor einem Picknicktisch. Das alles ließ mich daran zweifeln, dass sie Royal Hughes in ihr Schlafzimmer gelassen hatte. Für gewöhnlich haben die Leute keinen Sex in Zimmern, in denen die Fotos ihrer Mütter an der Wand hängen und auf sie herablächeln.
Ein kleiner begehbarer Kleiderschrank enthielt zwei Anzüge von der Sorte, in der ich Coleman gesehen hatte, dazu ein Dutzend langärmeliger Seidenblusen, die alle aussahen, als wären sie zu warm für Arizona. Außerdem Freizeitkleidung, Jeans, Baumwollblusen und einen fadenscheinigen braunen Bademantel mit ausgefransten Chenille-Säumen.
Im Medizinschrank des Badezimmers entdeckte ich nur frei verkäufliche Arzneimittel aus der Apotheke. Auf einer Ablage billige Feuchtigkeitscreme, billiges Shampoo und billige Zahnpasta. Die Dusche war sehr sauber, keinerlei eingetrocknete Wasserflecken auf dem Duschvorhang, was ich ziemlich merkwürdig fand, aber so bin ich nun mal.
Zurück im Wohnzimmer entdeckte ich einen Schreibtisch samt Unterlage und eine altmodische Berichtsliste, die mich unwillkürlich lächeln ließ. Wahrscheinlich war Laura Coleman der einzige Mensch, der noch eine Berichtsliste benutzte.
Auf dem Schreibtisch stand ein Laptop, daneben lagen schwarze Ordner, mit den Kanten sauber zum Rand der Tischplatte ausgerichtet. Mehr Unordnung ließ Coleman nicht zu. Ich erkannte die Kiste wieder, die wir von unserem Besuch bei Lynchs Vater und seinem Bruder mitgebracht hatten. Sie stand ordentlich neben dem Schreibtisch. Ich grinste. Eher wäre die Welt untergegangen, als dass Coleman vergessen hätte, sie aus dem Kofferraum zu nehmen.
Eigentlich hätte es nicht weiter schwierig sein dürfen, zu finden, wonach ich suchte, doch ich wühlte mich ohne Ergebnis durch die beiden kleinen Schubladen, in denen es nichts gab außer Stiften und Kugelschreibern – meine Güte, sie waren fein säuberlich nach abnehmender Länge nebeneinander aufgereiht. Coleman war noch viel zwanghafter, als ich angenommen hatte. Ein Taschenrechner, eine Rolle Briefmarken, eine Rolle Rücksendeetiketten. Eine Dose Pressluft zum Reinigen der Tastatur.
Ich wandte mich den großen Aktenschubladen zu. Steuererklärungen, nach Jahren abgeheftet. Agents wurden immer noch nicht angemessen nach ihrer Leistung bezahlt. Ein sechs Jahre alter Reisepass mit einem einzigen Stempel von Cancun, vor fünf Jahren, nannte Henderson, North Carolina, als Laura Colemans Geburtsort und den 12. Mai 1979 als ihr Geburtsdatum.
Endlich fand ich, wonach ich gesucht hatte, neben dem Telefon in ihrer Küche auf einer kleinen Bank am Ende des Tresens. Ich blätterte durch das in lindgrünes Leder gebundene Adressbüchlein. Coleman schien nicht viele Freunde zu haben, genau wie ich. Die wenigen Einträge waren mit Bleistift geschrieben. Ihr Zahnarzt, ihr Hausarzt, Evas Haarsalon, ihr Bruder in North Carolina (vermutlich). Leere Seite um leere Seite. Kein einziger Kollege aus dem Büro. Mit Ausnahme der R, wo ich die Initialen RH fand, zusammen mit einer Nummer. Vor lauter Angst, aufzufliegen, hatte Coleman nicht mal Hughes’ vollständigen Namen in ihr Adressbuch geschrieben.
Ich zog das Telefon auf dem Bänkchen zu mir heran und wählte die angegebene Nummer. Royal Hughes meldete sich nach den ersten Klingelzeichen.
»Was gibt’s?«
»Wann haben Sie Laura Coleman zum letzten Mal gesehen?«, fragte ich ohne Umschweife.
»Wer sind Sie?«
»Brigid Quinn.«
»Was machen Sie …?«
»Ja?«, fragte ich.
»… dort«, beendete er seinen Satz vorsichtig.
Also kannte er ihre Nummer auswendig und hatte sie auf dem Display gesehen. »Wann haben Sie Laura Coleman zum letzten Mal gesehen?«, wiederholte ich meine Frage.
»Ich will nicht, dass Sie mich zu Hause anrufen, Agent Quinn.«
»So langsam werde ich wütend, Hughes. Wann haben Sie Coleman zum letzten Mal gesehen?«
»Bei der Tatortbesichtigung, oben am Pass. Das habe ich Ihnen doch alles schon gesagt. Rufen Sie mich nicht mehr zu Hause an. Ich lege jetzt auf.«
Ich hörte eine Stimme im Hintergrund. »Honey? Kannst du heute Bills Klavierstunde übernehmen?«
Ich hatte keine Ahnung, wo Hughes wohnte, aber ich nutzte den Vorteil und bluffte. »Sie sind ein Lügner. Wenn Sie auflegen, komme ich rüber und werfe ein Montiereisen durch Ihre hübschen Doppelglasfenster, bevor Sie den Notruf wählen können. Anschließend können Sie der
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