Der stille Schrei der Toten
Claire? Oder soll ich dich jetzt Annie nennen?«
»Um Himmels willen, nein. Ich bin jetzt Claire. Dieser Schritt war sehr wichtig für mich.«
Sie nickte, und ihre Zöpfe baumelten hin und her. »Kannst du dir vorstellen, dass ich nie auch nur den geringsten Verdacht hatte? Die ganzen letzten zwei Jahre nicht. Du und Harve seid ganz schön verschwiegen.«
Ich stand da und sah ihr dabei zu, wie sie ihren Teller mit Pfannkuchen und Speck und Obstsalat und sonst so gut wie allem voll packte.
Dottie hatte einen erstaunlichen Appetit, aber sie war ja immerhin gerade erst über den See gepaddelt. Ich goss für uns beide schwarzen Kaffee und ein Glas Orangensaft ein und setzte mich neben sie.
Dottie schlürfte ihren Kaffee und sah mich über den Rand ihrer Tasse hinweg an. Ihr Blick wirkte besonders eindringlich unter den langen Wimpern, die sie mit viel mehr Mascara als eigentlich nötig verdichtet hatte. Ich hasste Make-up und fand es einfach dumm, ein hübsches, sauberes Gesicht so zuzukleistern.
Ich lächelte. »Ich freu mich, dass du gekommen bist. Ich muss dringend mit jemandem reden.«
»Ich weiß. Ich musste mich einfach vergewissern, dass es dir gut geht. Du weißt, was für eine Kämpfernatur ich bin. Harve wollte außerdem Dr. Black und dir diese Unterlagen zukommen lassen, und anstatt sie zu schicken, hab ich sie nun einfach selbst vorbeigebracht. Da sind sie übrigens, ehe wir’s vergessen.«
Sie öffnete den roten Rucksack, den sie mitgebracht hatte, zog einen großen braunen Umschlag heraus und gab ihn mir. Ich legte ihn auf die Anrichte hinter uns. Dottie machte sich unterdessen über ihre Rühreier her.
Nach einer Weile sagte sie: »Harve hat erzählt, dass du in L. A. mal eine Auszeichnung für besondere Tapferkeit bekommen hast, weil du einem Kollegen das Leben gerettet hast. Du warst eine von den Jüngsten, denen diese Ehre je zuteil wurde. Aus dem Grund haben sie dann angeblich auch diesen Zwischenfall mit deiner Familie besonders taktvoll abgewickelt, aus Respekt vor dir und so.«
Harve hatte zu viel geplaudert, aber ich zuckte mit den Schultern. »Das ja, aber die Presse hat mich bei lebendigem Leib zerrissen.«
»Es tut mir so leid, dass alles wieder aufgewärmt wird. Aber Harve sagte, dass es beim ersten Mal doppelt so schlimm war, als er Monate im Krankenhaus lag. Ich wünschte, ich hätte ihn damals schon gekannt. Ich hätte ihm helfen können.«
Ja, das waren in der Tat dunkle Monate, und ich hatte nicht die geringste Lust, darüber zu sprechen. Plötzlich wünschte ich, Dottie würde gehen.
Dottie betupfte sich mit ihrer Serviette die Lippen und runzelte die Stirn. »Jetzt bist du ganz aufgewühlt, nicht wahr? Ich sollte nicht so viel darüber reden.«
»Nein, schon gut.«
»Probier doch eins von diesen leckeren Croissants«, sagte Dottie und legte mir gleich eins auf den Teller. »Und dieser Obstsalat ist überirdisch gut. Ein absolutes Muss.«
Dottie hatte ein schlechtes Gewissen und versuchte, ihren Schnitzer wiedergutzumachen. Also gabelte ich ihr zuliebe ein Stück Wassermelone auf und steckte es in den Mund. Es schmeckte eiskalt und süß.
»Habt ihr beide die Nachrichten gesehen?«
»Ja, aber es gibt nicht viel Neues heute Morgen. Sie haben ein paar Aufnahmen von dir und Black gestern im Hubschrauber geschossen, aber wegen der getönten Scheiben konnte man dich nicht erkennen. Wahrscheinlich wird es um sechs ein paar Fotos von mir in meinem Kajak geben. So nötig haben sie’s. Das nächste wird dann Harve sein, wie er sie aus dem Fenster beschimpft.« Dottie lachte.
»Bestell ihm von mir, dass wir auch das durchstehen werden.« Ich nahm einen Schluck eiskalten Orangensaft und spürte, dass meine Lippen von Blacks Küssen leicht geschwollen waren. Hoffentlich hatte Dottie das nicht bemerkt.
»Ich glaub, für mich wird’s langsam Zeit.«
»Tyler ist sicher bereit, dein Kajak huckepack zu nehmen und dich im Schnellboot hinzubringen, wohin du willst.«
»Danke, aber ich brauch das Training, damit ich fit bleibe.« Sie präsentierte einen überaus beeindruckenden Bizeps und war im nächsten Moment auch schon verschwunden.
Ich blieb noch eine Weile im Schatten sitzen und starrte ins Leere. Dann hörte ich den Hubschrauber kommen. Ich stand auf und ging ein paar Schritte weiter, um die Landung besser verfolgen zu können. John Booker stieg aus, und ich sah, wie Black ihm zur Begrüßung entgegenkam. Sie plauderten und gingen dann weiter, bis ich sie nicht mehr
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