Der stille Schrei der Toten
Tante Helen.«
»Ich weiß. Ich hab’ die Fernsehnachrichten gesehen. Aber du wirst es schaffen. Seit dem letzten Mal bist du so stark, dass dich nichts mehr umhaut. Das weißt du auch.«
»Das stimmt«, sagte Black und legte mir seine Hand auf den Rücken.
Helen sah, wie ich der Berührung auswich, und blickte zu Black. »Ich glaube, um das beurteilen zu können, kennen Sie Annie nicht lange genug. Angeber wie Sie machen mehr Probleme, als sie es wert sind.«
Black steckte das ein wie ein Profi. »Glauben Sie mir, Mrs Wakefield, ich würde Claire niemals wehtun.«
Ich hakte mich bei Tante Helen ein und ging mit ihr zum Haus, ehe sie und Black noch handgreiflich wurden. »Ich freu mich so, dich wiederzusehen, Tante Helen. Setzen wir uns doch auf die Veranda. Da ist es kühl.«
Auf der Eingangsveranda, die sich über die gesamte Vorderfront des alten Farmhauses sowie eine der Seiten erstreckte, fragte Sheriff Barnett Black unverblümt, was er in Hartville wollte, hörte sich die Antwort höflich an – offenbar wollte er sich vergewissern, ob er zwei Damen mit ihm allein lassen konnte –und verabschiedete sich darauf. Ich bedankte mich bei ihm und setzte mich auf meinen Lieblingsplatz, eine weiße Schaukel am Ende der Veranda. Black lehnte sich gegen eine Holzsäule.
»Schöne Farm haben Sie hier, Mrs Wakefield.« Nun legte er sich ja mächtig ins Zeug.
»Vielen Dank.« So schnell ließ sich Tante Helen nicht um den Finger wickeln. Sie beäugte ihn weiter misstrauisch, als könnte er im nächsten Moment ihre Verandaschaukel klauen. Trotzdem blieb sie höflich. Fast kam es mir wie eine Art Höflichkeitskrieg vor, aber ich war entschlossen, mich da rauszuhalten, solange ich nicht wusste, was Black im Schilde führte.
Tante Helen sagte: »Will jemand Limonade? Hab ich heute Morgen frisch gemacht.«
»Klingt toll«, sprudelte Black hervor.
Mannometer. Ich ließ den Blick über die saftigen Weiden gleiten.
Nachdem Tante Helen im Haus verschwunden war, sagte Black: »Deine Tante mag mich anscheinend nicht.«
»Überrascht dich das?«
Black war weiterhin höflich und ignorierte meine Bemerkung. »Wirklich sehr friedlich hier draußen.«
»Deshalb komm ich hierher.«
»Hast du dich auch in dem Jahr, in dem du spurlos verschwunden warst, hier aufgehalten?«
»Ja. Ich saß fast die ganze Zeit auf dieser Schaukel und schaute ins Land. Hier ließ mich jeder Ruhe, und die Medien haben mich nie entdeckt. Ich mag diesen Frieden und die Stille. Am liebsten würde ich hier leben.«
»Verständlich.«
Tante Helen kam nach ein paar Minuten wieder heraus, in der Hand trug sie ein Tablett mit drei Gläsern Limonade mit Zitronenscheibe, einem Teller mit ihrem berühmten zweischichtigen Schokoladenkuchen, weißen Kuchentellern, Gabeln, und weißen Papierservietten mit roten Herzchen drauf. Während sie den Kuchen anschnitt, sagte sie zu Black: »Ich glaube, ich habe Sie schon ein-, zweimal im Fernsehen gesehen. Kann das sein?«
»Ja, Ma’am. Aber die meiste Zeit bin ich einfach Arzt.« Du meine Güte, er machte wirklich einen auf höflich. Ma’am und überhaupt. Noch nie hatte ich ihn zu irgendjemandem Ma’am sagen hören.
Tante Helen sagte: »Welche Fachrichtung?«
»Ich bin Psychiater.«
Helen verengte die Augen zu Schlitzen und warf mir einen fragenden Blick zu. Seelenklempner? Dann nahm sie auf einem Schaukelstuhl aus Metall Platz und legte die Hände in den Schoß. »Was wollen Sie also nun von mir wissen?«
»Ich habe ihm schon gesagt, dass du auch nicht mehr weißt, als das, was ich ihm schon gesagt habe, aber er glaubt mir nicht.«
Black setzte sich ebenfalls zu uns und beugte sich nach vorne. »Mrs Wakefield, ich glaube, es gibt da noch ein paar Details aus Claires Kindheit, an die nur Sie sich erinnern. Sie hat soviel durchgemacht, mehr als sonst irgendein Mensch, und ich will, dass sie endlich ihren Frieden findet.«
Helen wirkte beinahe verstört. »Das stimmt, ihre Mutter aber auch.«
»Claire erinnert sich kaum daran, was passierte, als ihre Mutter verschwand.«
Ich sagte: »Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß. Wenn da noch mehr wäre, hätte es mir Tante Helen längst gesagt, nicht wahr, Tante Helen?«
Als Tante Helen sich zurücklehnte und einfach schwieg, ließ ich einen Fuß am Boden schleifen und hielt die Schaukel an. Oh-oh.
»Tante Helen? Du hast mir doch alles gesagt, nicht wahr?«
»Natürlich. Vielleicht habe ich aber auch das eine oder andere nicht erwähnt.«
Sofort war mir
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