Der stille Schrei der Toten
klar, dass sie etwas verbarg. Und Black ging es, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, nicht anders. Er sagte: »Wissen Sie denn, was mit ihrer Mutter geschehen ist? Ist sie wirklich einfach nur verschwunden?«
»Ja.« Helen schaukelte sanft hin und her. »Hat Annie Ihnen gesagt, dass wir nicht wirklich blutsverwandt sind, Dr. Black?«
»Nein, hat sie wohl auch einfach vergessen zu erwähnen.«
»Ich sah keinen Grund, das zu erwähnen.« Aber ich fühlte eine nervöse Unruhe in mir, als fürchtete ich, von einer neuen Welle des Schmerzes überrollt zu werden.
Tante Helen sah zu Black. »Annies Mutter, Regina, war auf der Highschool die beste Freundin meiner Tochter Linda.«
Black sagte: »Wohnte die Familie von Regina auch hier in der Nähe?«
»Ja, aber mittlerweile sind fast alle Familienmitglieder tot. Der Vater war Pfarrer, ein herzensguter Mann, aber streng wie die Hölle mit seinen Töchtern, diesen armen Mädchen. Beide sind so bald wie irgend möglich von Zuhause abgehauen.«
Ich sagte: »Warum hast du mir das nie gesagt, Tante Helen?«
»Ich sah keinen Grund dafür.«
Black hakte weiter nach. »Regina hatte also eine Schwester, ja?«
»Genau. Sie hieß Kathy und hat sich schon vor Jahren umgebracht. Und du, Annie, hast sie gefunden.«
»Ja, ich hab sie gefunden.« Ich hatte plötzlich keinen Hunger mehr und stellte meinen Kuchenteller auf den Tisch.
»Ich glaube, es ist an der Zeit, dir die ganze Wahrheit zu sagen, Annie. Vermutlich wollte ich dich in all den Jahren zuvor schützen.«
»Und die wäre?«
Sie seufzte. »Die Wahrheit ist, dass deine Mutter schon lange vor deiner Geburt mit einem jungen Soldaten auf Heimaturlaub durchgebrannt ist. Als der junge Mann an die Front musste, kam sie wieder nach Hause zurück, aber ihr Vater, dein Großvater Baker, enterbte sie und warf sie aus dem Haus. Darauf kam sie dann hierher und lebte eine Weile mit mir und Linda zusammen.« Tante Helen nahm meine Hand. »In der Zeit stellte sie dann auch fest, dass sie mit dir schwanger war, Annie.«
Ich war wie versteinert, fassungslos, wie sie mir das über all die Jahre hinweg verheimlichen konnte. Tante Helen schüttelte den Kopf. »Es war alles so anders damals; das kannst du dir gar nicht vorstellen! Man war stigmatisiert als ledige Mutter, noch dazu wenn der Vater Geistlicher war. Noch bevor es also jeder sehen konnte, besorgte ich ihr eine Stelle. Sie sollte kochen und saubermachen für Freunde von mir, die eine Suppenküche in Poplar Bluff betrieben. Die Leute konnten sie sicher unterbringen, während sie dort arbeitete, und ich wusste, sie waren in Ordnung und würden es gut mit ihr meinen. Regina wollte so schnell wie möglich weg von hier. Sie wollte auf keinen Fall, dass hier jemand erfährt, dass sie ein Baby bekommt.«
Ich blinzelte und starrte sie an; dann blinzelte ich nochmals. Das alles war nicht ganz leicht zu verkraften.
Black sagte: »Also hier wurde Claire geboren? In Poplar Bluff.«
Ich sagte: »Warum hat man mir dann gesagt, ich wäre in Dayton, Ohio, geboren worden?«
»Deine Mutter wollte nicht, dass du die Wahrheit weißt.«
Ich saß einfach nur da. Black stand auf und setzte sich zu mir auf die Schaukel.
»Linda und ich blieben mit deiner Mutter so gut wie möglich in Kontakt, in erster Linie telefonisch. Im Schoß ihrer Familie war sie nie wieder so richtig willkommen.«
Black sagte: »Und Annies Vater? Was ist aus ihm geworden?«
»Er kam nie wieder zurück, ist an irgendeinem gottverlassenen Ort gefallen.«
»Wie konntest du mir das alles verschweigen? Und warum hast du so lange ein Geheimnis daraus gemacht? Wer war mein Vater? Wie hieß er?«
»Sein Name war Scott Parker. Und gesagt hab ich dir deshalb nichts, weil ich keinen Grund dafür sah, dir alle diese unschönen Details aufzutischen, noch dazu, weil Regina sich so viel Mühe gegeben hat, sie zu verbergen. Du hast genug durchgemacht. Da musstest du das alles nicht auch noch wissen.«
Black sagte: »Booker fand heraus, dass Regina möglicherweise geheiratet hat in Poplar Bluff, und zwar einen Beerdingungsunternehmer. Stimmt das?«
Tante Helen sah uns beide eindringlich an; sie antwortete offenbar nur widerstrebend. »Nun, sein Name war Landers, und er war von Beruf Einbalsamierer. Sie hat eine gewisse Zeit bei ihm gearbeitet, aber ich weiß nicht wie lange. Er bot ihr ein kleines Haus hinten auf seinem Grundstück, in dem sie kostenlos wohnen konnte. Dafür sollte sie für ihn kochen und sauber machen. Sie
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