Der stille Schrei der Toten
ist er ja schon fast Stammgast. Trotzdem verhält er sich mir gegenüber, als wäre ich eine alte Freundin. Dabei bin ich seine Patientin.«
Bud neigte sich Mrs Cohen leicht zu. »Befand sich Sylvie in Begleitung von Dr. Black, als Sie sie zum ersten Mal gesehen haben?«
»Richtig. Die beiden hatten zusammen Mittag gegessen. Ein hübsches Paar. Sie ist eher klein und blond, er dagegen groß und dunkel.«
»Hatten Sie sie auch früher schon mal zusammen gesehen? Waren die beiden ein Paar?« Ich fragte ziemlich unverhohlen drauf los, aber mich interessierte der Eindruck, den Mrs Cohen von dieser Beziehung hatte.
»Sie meinen, ob sie ein Liebespaar waren?« Madeline zuckte mit den Schultern wie ein Vögelchen und begann am ganzen Leib zu zittern, worauf Bud ihr eine Chenille-Decke vom anderen Ende der Couch reichte. Sie war muschelfarben.
»Vielen Dank, mein Lieber«, sagte sie sichtlich entspannt. Dem Charme des Südens konnte sich nun mal keiner widersetzen, ich hatte es schon immer gesagt. »Ich weiß es wirklich nicht, ob sie ein Liebespaar waren oder nicht. Sie verstanden sich sehr gut, wissen Sie, lachten viel und waren einfach gern zusammen. Beim Weggehen fasste sie ihn am Arm, aber das hat nicht viel zu sagen, oder?«
Ich nickte. »Haben Sie nur dieses einzige Mal mit dem Opfer gesprochen, Mrs Cohen?«
»Ja, sonst bin ich ihr nur immer kurz begegnet, beim Schwimmen. In grauer Vorzeit war ich mal ein richtiger Profi. In den 50er-Jahren habe ich im Brustschwimmen zehn Medaillen geholt, und noch heute habe ich einen ordentlichen Zug drauf.« Bud und ich zeigten uns entsprechend beeindruckt und warteten. »Das war meistens morgens, wenn sie auf der Veranda ihren Kaffee trank«, sagte Mrs Cohen, wobei ihre Stimme zunehmend hohl klang. »Sie hat mir immer zugewinkt. Die arme Kleine, sie war fast noch ein Kind, und jetzt ist sie tot. Und warum saß sie so an diesem Tisch? Sie saß doch an einem Tisch unter Wasser, nicht wahr? Das hab ich doch gesehen, stimmt’s?«
Ich nickte und sagte: »Genau das wollen wir klären, Ma’am, wer sie umgebracht hat und warum. Sind Ihnen letzte Nacht irgendwelche ungewöhnlichen Geräusche aufgefallen? Laute Schreie oder etwas anderes? Oder haben Sie eine auffällige Person bemerkt?«
»Nein, nein, nicht dass ich wüsste. Aber ich nehme jeden Abend so gegen acht ein paar Tylenol extra stark, damit ich früh genug aufstehen kann, ehe die ersten Boote auf dem See sind. Meine Arthritis macht mir doch sehr zu schaffen. Dabei ist es aber doch so friedlich mit den ganzen Sicherheitsmaßnahmen von Dr. Black. Wie konnte das überhaupt passieren? Nur ein Haus weiter. Ich kann in diesem See nie wieder schwimmen. Allein der Gedanke, wie sie da unten im Wasser saß. Mort will mich nach Hause zurückholen. Ich darf doch nach Hause, oder? Sie haben nicht vor, mich festzuhalten, oder?«
»Nein, Ma’am, gewiss nicht.« Bud klopfte ihr auf die Schulter. »Aber Ihre Personalien würden wir gerne aufnehmen, damit wir uns bei Ihnen melden können, falls wir noch Fragen haben.«
»Ist doch sehr interessant, dass Black und Sylvie so miteinander geturtelt haben«, sagte Bud, als wir Mrs Cohens Bungalow verließen. »Wie wär’s, wir überprüfen das Alibi von der Assistentin auf seine Stichhaltigkeit?«
Leben mit Vater
Das Kind saß neben der Mutter auf dem Bettrand. Sie war wieder einmal schwer misshandelt worden, weil eines der weißen Hemden des Vaters nach dem Waschen noch Blutspuren am Ärmel aufwies. Dafür hatte er sie mit dem Abziehleder gezüchtigt, bis sie nicht mehr laufen konnte.
Sie flüsterte dem Kind zu: »Er bleibt bis zum Abendessen im Keller. Er kommt jetzt sicher nicht herauf.« Als sie die Hand nach ihm ausstreckte, stöhnte sie auf vor Schmerz. »Du darfst mich niemals verlassen, so wie ich dich nie verlassen werde. Wir bleiben für immer zusammen.« Sie fing an zu schluchzen, leise, damit der Balsamierer es nicht hörte. Das Kind blickte aus Angst um die Mutter erschrocken zur Tür, weinte aber nicht, denn das hätte den Regeln widersprochen. Nach einiger Zeit schlief sie ein, und das Kind ging ans Fenster und schaute hinaus. Es war ein schöner Frühlingstag. Der Rosenstrauch, den die Mutter an einem Spaliergitter nahe dem Seiteneingang heranzog, stand in voller Blüte. Rosen liebte sie über alles. Sie schnitt davon Sträuße und stellte sie in einer Vase neben das Bett des Kindes, und ihr Duft erfüllte den Raum. Die Mutter lag nun ruhig da, einen Arm hatte sie über
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