Der stille Schrei der Toten
lassen. Sie ist ziemlich durcheinander und wartet schon seit dem frühen Morgen auf uns.«
Madeline Jane Cohen saß in einem schwarzen Badeanzug, einem Einteiler, Modell etwa 1932, auf ihrem Sofa; auf ihren krampfadrigen Schenkeln hielt sie eine Pistole Kaliber .22. Sie richtete die Waffe zwar nicht direkt auf uns, hätte aber sicher jedem sofort ein Loch in den Kopf geballert, der auch nur eine falsche Bewegung gemacht hätte, so verängstigt wirkte sie.
»Ma’am, Sie werden die Waffe nicht brauchen.« Bud sah mich kurz an, um sich dann der alten Dame mit aller gebotenen Vorsicht zu nähern. Mit einer schreckhaften Alten war keineswegs zu spaßen. Über den weißen Teppich verlief eine Spur nasser Flecken, die die alte Dame wahrscheinlich hinterlassen hatte, als sie zum Telefon gelaufen war. »Überlassen Sie die Waffe mir, Mrs Cohen. Sie brauchen keine Angst zu haben; wir lassen einen Beamten hier, der bis zum Eintreffen Ihres Mannes auf Sie aufpasst. Sie können ganz unbesorgt sein. Alles wird gut.«
»Er ist unterwegs«, sagte Mrs Cohen. In ihrer heiseren Stimme schwang Nervosität, und entsprechend fahrig waren ihre Bewegungen, als sie Bud die Waffe brav aushändigte. »Gegen Mittag wird er hier sein mit dem ersten Flug vom Airport LaGuardia. Er konnte es auch nicht glauben. Da lebt man vierzig Jahre lang mitten in New York, und nie ist auch nur irgendwas in dieser Richtung passiert. Mort und ich waren im letzten Dezember siebenundvierzig Jahre verheiratet, und in der ganzen Zeit bin ich nie alleine im Urlaub gewesen. Und sehen Sie, was passiert, kaum fahre ich mal alleine weg. Eins hab ich mir geschworen, nie wieder verlasse ich die Stadt. Mit den vielen Menschen um einen herum lebt man da oben viel sicherer. Oh mein Gott, die arme Kleine. Sie war so ein liebes Ding. Ich habe sie um ein Autogramm gebeten und hab auch eins bekommen, und sogar noch eins dazu für meine Enkeltochter Katerina.«
Ich sagte: »Sie waren wohl mit Sylvie Border gut befreundet?«
»Oh, nein, nein. Ich habe sie erst vor ein paar Tagen kennengelernt. Vor drei Tagen, meine ich. Ja, es muss der Dienstag gewesen sein, als ich aus dem Wellness-Center im Hauptgebäude gekommen bin. Ich habe sie sofort erkannt, weil sie in letzter Zeit so viel im Fernsehen zu sehen war. Noch kurz vor meiner Abreise habe ich sie auf Entertainment Tonight gesehen, wie sie sich ein Tattoo machen ließ. Sie und Lorenzo – das ist ihr Freund und Liebhaber im Fernsehen – werden beschuldigt, ihren Stiefvater wegen seines Geldes ermordet zu haben. Das stimmt natürlich nicht, es war einfach nur dumm gelaufen, weil man dieses japanische Messer, die Tatwaffe, bei ihnen zu Hause gefunden hat. Zuletzt stellt sich heraus, dass ihr eigener Bruder der Täter ist, und sie verrät ihn an die Polizei. Der Typ war wirklich fies.« Ihre Stimme schwankte, als fiel ihr gerade ein, dass die Realität ja eine ganz andere und Sylvie tot war. Ihre Augen weiteten sich kreisrund.
»Klingt so, als wären Sie ein großer Fan von ihr«, sagte ich, um sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuführen.
»Es ist die beste Soap überhaupt, aber das ist jetzt vorbei. Ohne Sylvie wird sie nicht wieder so, wie sie war. Niemals. Sie hat die Rolle der Amelia so gut gespielt. Dafür haben sie alle geliebt.« Madeline kamen die Tränen, und sie schlug die Hände vors Gesicht. Sie schluchzte leicht.
»Mein Name ist Claire Morgan, Detective am Sheriff’s Department hier in Canton. Meinen Kollegen Bud haben Sie schon kennengelernt. Wir ermitteln im Mordfall Border.« Ich warf einen Blick auf den bestickten Ohrensessel neben mir. »Darf ich mich setzen, Mrs Cohen?«
»Aber natürlich, meine Liebe, bitte. Ich bin so durcheinander, dass ich nicht einmal vernünftig denken kann.«
»Das ist doch verständlich.« Ich nahm einen Notizblock aus meiner schwarzen Ledertasche, setzte mich und schlug ihn auf. »Erzählen Sie uns doch bitte genau, was am Dienstag bei Ihrer ersten Begegnung mit Ms Border passiert ist. Ist Ihnen an diesem Tag irgendetwas aufgefallen an ihr, etwas Ungewöhnliches?«
Mrs Cohen schüttelte den Kopf. »Sie war einfach nur nett, sehr nett. Hat sogar gewartet, bis ich einen Stift und Papier vom Hauptgebäude geholt hatte für die Autogramme. Sie war so was von freundlich, als wäre sie ein ganz normaler Mensch. Dasselbe gilt für Dr. Black. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft ich ihn schon in diversen Morgenshows gesehen habe, vor allem in der Today Show . In der
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