Der stille Schrei der Toten
vieles nicht so schwer.
»Bitte warten Sie hier. Ich sage dem Doktor, dass Sie hier sind. Kann ich in der Zwischenzeit einen Drink für Sie kommen lassen?«
»Danke, nicht nötig.«
Geoffrey verbeugte sich, und ich war fast geblendet von so viel weißem Tuch, gebräunter Haut und polierten Messing-knöpfen. Gutes Aussehen schien eine Grundbedingung für eine Anstellung in Cedar Bend zu sein. Ich ging in der Kabine herum.
Der vermeintlich für die Crew bestimmte Raum im Achterschiffbereich war, wie ich feststellte, auch ein Büro. Am Ende der Kabine gaben riesige Fenster den Blick auf einen Nachthimmel frei, in dem ungefähr eine Million Sterne und eine lange Lichterkette am Horizont mit dem Diamantcollier der Rothaarigen um die Wette funkelten. Ich war unsicher, wo ich überhaupt war, aber das musste der Spätabendverkehr auf einer der Brücken sein. Eine offene Tür gab den Blick in eine geräumige Gästekabine frei. Sie war ebenfalls mit riesigen Fenstern ausgestattet und bot die gleiche Aussicht und ein Bett, das groß genug für King Kong & Co. war. Es war gut möglich, dass die Rothaarige ihr Diadem noch heute Abend auf einem dieser Bettpfosten ablegen und mit dem guten Doktor zusammen die schwarze Satinbettwäsche zum Kochen bringen würde.
»Wie gefällt Ihnen die Falcon? «, erklang es plötzlich wie aus dem Nichts.
»Sie lieben es wohl, sich aus dem Hinterhalt anzuschleichen?« Ich war leicht verärgert, dass er sein Spielchen erneut abgezogen hatte. Er hatte sich in einen Smoking geschmissen und sah verdammt gut darin aus. Bond war gar nichts im Vergleich dazu. Ich hatte eine Jeans mit einem Riss in beiden Knien an und über einem schwarzen Tanktop trug ich eine weite blaue Jeansjacke, unter der ich mein Schulterhalfter verbarg. Irgendwie passte meine Aufmachung nicht zudem glamourösen Lebensstil auf einer Yacht.
»Es war nicht meine Absicht, Sie zu erschrecken. Setzen Sie sich doch, bitte«, sagte er und ging um den Teakschreibtisch herum. Darauf lag an einer Seite ein zugeklapptes sündteures Notebook. Hinter ihm erstreckte sich der nächtliche Sternenhimmel, aber sein Gesicht war überschattet, da ihn der Schein der Schreibtischlampe nicht ganz erfasste. Ich hatte den Eindruck, er war nicht besonders gut gelaunt. Dann sah er mein Gesicht. »Großer Gott, was ist denn mit Ihnen passiert?«
»Ich bin der Sorte Verbrecher über den Weg gelaufen, die mich ungern sieht.«
Er runzelte die Stirn. Offenbar fand er das gar nicht lustig. »Sind Sie beim Arzt gewesen?«
»Es ist nicht schlimm.«
»Lassen Sie mich doch mal sehen.«
»Vielen Dank, nein. Wie schon gesagt, es ist nicht schlimm.«
Wir nahmen beide Platz. Zeit, nett zu sein. Ich konnte schon professionell sein, trotz meiner Klamotten. »Schön, dass Sie sich Zeit für mich nehmen. Ich wusste nicht, dass Sie Gäste haben.«
»Es handelt sich um ein Geschäftsessen mit Kollegen aus Moskau. Ich spiele mit dem Gedanken, dort eine Praxis zu eröffnen. Hätten Sie Lust, sich uns anzuschließen?« Er starrte unentwegt auf mein blaues Auge.
»Leider bin ich nicht in der richtigen Stimmung für Partys.«
»Sind Sie überhaupt je in der Stimmung dazu?«
»Seit der Bergung von Sylvie nicht mehr. Und Ihnen wird der Spaß auch gleich vergehen.«
Sein Blick fiel auf die Mappe auf meinem Schoß; dann sah er mich an. Seine Augen funkelten blau im Lampenlicht.
»Der Obduktionsbericht«, sagte ich, als ich die Mappe über den Tisch schob. »Sie haben Sheriff Ramsay um Einsicht gebeten. Er hat zugestimmt und mich gebeten, ihn persönlich bei Ihnen vorzulegen.«
Als er die Mappe in die Hand nahm, machte ich mich bereit. Das Bild des abgetrennten Kopfes hatte ich ganz oben aufgelegt, und ich fühlte mich mit einem Mal so was von klein mit Hut. Mir war aber klar, dass seine Reaktion einen hohen Aussagewert hatte. Er zögerte kurz, vielleicht auch um sich zu wappnen, und öffnete dann die Mappe. Im nächsten Augenblick stemmte er sich mit letzter Kraft hoch und schleuderte die Mappe gegen die Fenster hinter ihm. Ich war auch aufgestanden, und er sah mich mit äußerster Fassungslosigkeit und Bestürzung an. In diesem Moment war mir ziemlich klar, dass er nicht der Täter war. Ich sah ihm nach, wie er den Raum verließ, und hörte wenig später das Plätschern eines Wasserhahns, begleitet von erstickten und würgenden Geräuschen.
In dem Moment kam ich mir so abgebrüht und herzlos vor, wie das letzte Stückchen Dreck, und musste mich setzen, um zu warten,
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