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Der stille Schrei

Der stille Schrei

Titel: Der stille Schrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Specht
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kleinen Verhältnissen, der jetzt protzig in der Oberstadt residierte?
    War dieser Degenhardt mittlerweile nicht verstorben? Auch so ein komischer Typ. Revoluzzer. Zumindest so zum Schein. Singt richtig gute aufsässige Lieder, als er noch jünger war, und wird dann ein total angepasster Anwalt. Die Verteidigung von einigen Leuten der Baader-Meinhof-Bande war doch nur ein schäbiges Alibi für seine Selbstaufgabe.
    Während ich noch lange meinen Gedanken nachhing, klingelte es an der Tür. Das Abendessen. Ich nahm es entgegen, gab ein angemessenes Trinkgeld und ging nach unten in seine Muckibude, um ihn zu holen. Es stank fürchterlich dort. Schweiß, Metall, abgestandene Luft, ein für seine Standards zu billiger Teppichboden.
    Seine Augen glitzerten beide, als er mir nach oben folgte. Ich verstand es nicht. Ihn verstand ich sowieso nicht.
    Dann schaufelte er das kroatische Essen in sich hinein. Ich kostete von allem. Es war gut gewürzt und schmeckte lecker. Wieso aber sollte ich mir meinen Magen so vollschlagen?
    Zum Glück schwieg er heute Abend. Ja. Er sagte kein Wort. Nachdem das Essen in seinem Schlund verschwunden war, verzog er sich in sein Arbeitszimmer, noch eine Flasche Bier im Schlepptau.
    Nun holte ich entspannt Luft. Irgendein Kelch schien an mir vorübergegangen zu sein. Oder doch nicht? Was war das für ein Telefonat gewesen?

MORGENSTUND
    Am nächsten Morgen wachte ich sehr früh auf. Der Dämmerung nach zu urteilen, dürfte es kurz vor sechs Uhr sein. Ein Blick zur Seite zeigte mir, dass der Wecker neben meinem Bett seinen Geist aufgegeben hatte. Ich sollte die Batterie wechseln. Zeit für das Jogging? Dann würde ich aber meine Hausfrauenpflichten verletzen. Schließlich bestand er darauf, dass ich ihm jeden Morgen das Frühstück zubereitete. Wie eintönig: Lediglich die Abwechslung zwischen Spiegelei und Rührei wurde geduldet. Es musste immer eine Eierspeise sein. Hierzu hatte er auch einen einschlägigen Spruch parat, den ich nicht mehr hören konnte. Kraft für seine, pflegte er zu sagen.
    Natürlich stritten beide inneren Stimmen wieder miteinander herum. Sagte die eine: Geh, du musst was riskieren, entgegnete die andere: Lieber nicht, er schlägt dich windelweich.
    Im Bad war eine kleine Uhr. Es war kurz vor sechs Uhr. Bingo. Jetzt hatte ich die Lösung. Schnell zog ich meine Jogging-Klamotten an.
    Da Karl wie ein Uhrwerk funktionierte, konnte ich erwarten, dass er präzise um 6.30 Uhr am Frühstückstisch sitzen würde. Also huschte ich in die Küche und bereitete alles vor. Kurz nach sechs hörte ich ihn ins Bad gehen. Der Countdown lief. Ich würde ihm sein Frühstück just in time, einer seiner Lieblingsbegriffe, servieren, aber eine Minute vorher verschwinden. Gedacht, getan. Die Eier bruzzelten, der Toast duftete, der Kaffee lief gurgelnd durch die Maschine. Noch ein Gläschen Orangensaft auf den Tisch gestellt: fertig. Ich schrieb noch einen kleinen Zettel, dass ich jetzt joggen gehen würde. Befriedigt betrachtete ich meine logistische Meisterleistung und verließ genau dann das Esszimmer, als er die Treppe herunterkam.
    Die Haustür fiel leise ins Schloss, und ich lief begeistert los. Wie ich sofort merkte, etwas zu schnell. Das war wohl der Adrenalinschub meines Wagnisses. Also Tempo runter, nach rechts in den Feldweg mit Kurs in den Wald.
    Bald hatte ich meinen Rhythmus gefunden und genoss diesen Lauf in meine Freiheit. Die Gedanken lösten sich auf, und ich erfreute mich an den wunderschönen Düften, Bildern und Geräuschen der frühen Stunden in der Natur. Ein gespenstischer Bodennebel hatte sich in Senken gekuschelt, die Helligkeit des Tages scheuend, aber die Sonne löste ihn auf und schob ihn in Schwaden über die Wiesen und Felder. Es sah aus, als ob ein nächtliches Wesen den Tag meiden und sich in den Ritzen des Bodens verkriechen wollte. Ich fühlte mich diesem Nachttier sehr verbunden.
    Im Wald zogen die Lichtstrahlen der Sonne wie glitzernde Speere durch die eng und dunkel stehenden Fichten. Mein Lauf wurde von Schreien der Eichelhäher begleitet, ein Specht klopfte den Takt zu meinen Schritten. Ich spürte, wie diese Bewegung ein Wohlgefühl in mir erzeugte.  Mens sana in corpore sano , die bekannte lateinische Weisheit, dass in einem gesunden Körper auch ein gesunder Geist weilte und dann Vitamine für die Seele ausgeschüttet wurden.
    Bald vergaß ich die Zeit und lief in eine mir unbekannte Zukunft. Leichtigkeit stellte sich ein. Offenbar hatte ich das erste

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