Der Strandlaeufer
Das Protokoll der Seeamtsverhandlung.« Er blätterte im Ordner und las wieder vor, und irgendwie schaffte es seine Stimme, die Atmosphäre einer Seeamtsverhandlung aus dem neunzehnten Jahrhundert in das Zimmer zu holen: »An der Sache betreff dem Seeunfall des deutschen Barkschiffes ›Frank Wilson‹, Schiffer Brockmeyer aus Elsfleth, hat das Großherzoglich Oldenburgische Seeamt zu Brake auf Grund der öffentlichen Hauptverhandlung vom 11. December 1888 den folgenden Spruch beschlossen.«
Die Stimme meines Vaters nahm den Ton der Endgültigkeit an, als spräche sie aus den Wolken am Tag des Jüngsten Gerichts. Ich dachte daran, wie sehr er einst unter seiner eigenen Seeamtsverhandlung gelitten hatte, bei der ihm der Vorwurf fahrlässiger Tötung gemacht worden war.
»Die Bark ›Frank Wilson‹ lief auf der Reise von Tumaco nach Falmouth die Reede von Pernambuco an und setzte von da am 1. Dezember 1887 die Reise fort. Da das Schiff den Bestimmungshafen nicht erreicht hat und da seit dem 1. Dezember 1887 jegliche Nachricht von demselben und über dasselbe fehlt, auch eine vom Seeamt in den Oldenburgischen Anzeigen, der Weser Zeitung und Cölnischen Zeitung sowie in den hiesigen Blättern zweimal veröffentlichte Aufforderung zur Auskunftserteilung ohne jeglichen Erfolg geblieben ist, wobei die nach Artikel 866 des Handelsgesetzbuchs im vorliegenden Fall 9 Monate betragende Verschollenheitsfrist bereits am 1. September 88 abgelaufen war, kann der Verlust des Schiffes und der Tod der ganzen Besatzung nicht bezweifelt werden. Außer dem Führer, Schiffer W. Brockmeyer aus Elsfleth, bestand die Besatzung der ›Frank Wilson‹ aus den nachstehend aufgeführten neun Personen, welche, wie einem Zweifel nicht unterliegen kann, sämtlich bei dem Verlust des Schiffes ihren Tod gefunden haben: Steuermann Kremer aus Papenburg, zweiter Steuermann Ernst A. Keil aus Brudheden, Koch Hatz aus Altona, Zimmermann Bernd v. Vikenas aus Christiansand, Matrosen Th. Kraft aus Muggenburg, C. R. Hinze aus Charlottenburg, Peter H. Petersen aus Flensburg, Harder aus Wismar und Schiffsjunge Boysen aus Wyk auf Föhr.«
Er sah auf, und wieder standen Tränen in seinen Augen. Er trank sein Glas leer und fuhr fort: »Nach vorstehender Darstellung der ermittelten Tatsachen kann man über die Ursache des Verlustes lediglich Vermutungen anstellen, doch liegt keinerlei Grund für die Annahme vor, dass Mängel in der Beschaffenheit oder Ausrüstung des Schiffes auf denselben von Einfluss gewesen wären.«
»Dann ist die These einer Selbstentzündung der Ladung bloß eine Vermutung von dir.«
Er beachtete meinen Einwurf nicht, sondern entnahm einem Kuvert ein Foto und reichte es mir. Die vergilbte Aufnahme zeigte einen schmächtigen, schmalschultrigen Jungen mit sorgfältig frisierten Haaren in strammer Haltung neben einem Blumenständer mit einer Stechpalme, die eine Hand auf eine geblümte Tischdecke gelegt, die andere an der Hosennaht. Er trug einen kurzen, weißen Schlips, ein quergestreiftes Hemd, eine weite Jacke mit Samtkragen und schwere Stiefel. Sein Blick ging geradeaus, fest auf das Kameraobjektiv gerichtet. Das Gesicht wirkte eher mädchenhaft zart als männlich, eher melancholisch als draufgängerisch.
»Die Aufnahme wurde zu John Jakobs Konfirmation gemacht, also zwei bis drei Jahre vor seiner ersten und letzten Schiffsreise. Niemand weiß heute mehr etwas von Onkel John. Das macht mir großen Kummer. Er darf nicht auch noch im Meer des Vergessens untergehen. Deshalb habe ich mir die Geschichte vom Untergang der ›Frank Wilson‹ ausgedacht. Ich weiß, es ist nur Spekulation, aber ich bin mir ziemlich sicher, der Wahrheit nahe gekommen zu sein. Der Tod Onkel Johns hatte große Auswirkungen auf mich und auch auf dich.«
Ich sah ihn voller Verblüffung an. Inzwischen machte ich meinen Grog schwächer, denn ich wollte nicht betrunken werden. Er, dem wie immer der Alkohol nichts anzuhaben vermochte, schien es glücklicherweise nicht zu merken.
»Du fragst dich, warum?«, sagte er lauernd. »Ganz einfach: Wäre Onkel John nicht in jungen Jahren auf See geblieben, wäre er zweifellos Kapitän geworden und wahrscheinlich anschließend Reeder. Mein Vater wäre in seine Dienste getreten. Er wäre gar nicht an Krebs erkrankt, weil er beruflich glücklicher gewesen wäre. Alles wäre anders geworden. Mein Schicksal, auch deines. Du wärest gar nicht geboren worden, sondern ein anderer deines Namens. Du siehst, welche
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