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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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verschwand.
    *
    Die grünblauen Schienen liefen auf sie zu wie zwei Strahlen, die aus einem einzigen Punkt hinter dem Horizont hervorschossen. Sobald sie näher kamen, verschmolzen die Schwellen vor ihren Augen zu einem sanften Bach, der unter den Rädern vorbeifloss. Ein verschwommener Lichtstreifen heftete sich knapp über dem Boden an die Seite der Lokomotive. Bäume und Telegrafenmasten tauchten plötzlich im Blickfeld auf und schossen vorbei, als würden sie nach hinten fortgerissen. Die grünen Ebenen glitten gemächlich vorbei. Dort, wo der Himmel endete, kehrte eine lange Kette von Bergen die Bewegung um und schien dem Zug zu folgen.
    Sie spürte die Räder unter dem Fußboden nicht. Die Bewegung glich einem ruhigen Flug mit gleichbleibendem Antrieb, als glitte die Lokomotive oberhalb der Schienen dahin, von einer Strömung getragen. Sie fühlte keine Geschwindigkeit. Es erschien ihr seltsam, dass die grünen Lichter der Signale im Abstand von Sekunden auf sie zukamen und an ihnen vorbeiflogen. Sie wusste, dass die Lichtsignale jeweils zwei Meilen voneinander entfernt waren.
    Die Nadel des Tachometers vor Pat Logan stand auf einhundert.
    Sie saß auf dem Platz des Beimanns und sah von Zeit zu Zeit zu Logan hinüber. Er saß leicht vornübergebeugt und entspannt da, eine Hand ruhte locker, wie zufällig, auf der Drosselklappe; aber seine Augen waren auf die Strecke vor ihm geheftet. Er agierte mit der Leichtigkeit eines Fachmannes, so selbstsicher, dass es lässig wirkte, aber es war die Leichtigkeit, die einer enormen Konzentration entsprang, der Konzentration auf eine Aufgabe, die mit absoluter Entschlossenheit ausgeführt wurde. Ray McKim saß hinter ihnen auf einer Bank. Rearden stand in der Mitte des Führerstandes.
    Er stand breitbeinig, mit den Händen in den Taschen da, stemmte sich gegen die Bewegung und sah geradeaus. Abseits der Strecke gab es für ihn jetzt nichts, was ihn interessierte: Er beobachtete die Schienen.
    Eigentum, dachte sie und sah zu ihm zurück – gab es nicht Leute, die sein Wesen nicht kannten und seine Existenz bezweifelten? Nein, es bestand nicht in Dokumenten, Siegeln, Befugnissen und Zulassungen. Es war dort – in seinen Augen.
    Die Geräusche im Führerstand schienen ein Teil des Raumes zu sein, den sie durchquerten. Man hörte das tiefe Brummen der Motoren, das etwas hellere Klicken vieler verschieden klingender Metallteile und das hohe, dünne Klirren von Glasscheiben.
    Gegenstände rasten vorbei: ein Wassertank, ein Baum, ein Schuppen, ein Getreidesilo. Die Art, wie sie sich bewegten, erinnerte an einen Scheibenwischer: Sie stiegen in einer Kurve auf und fielen zurück. Telegrafendrähte lieferten sich ein Rennen mit dem Zug, stiegen hinauf und fielen ab, von Mast zu Mast, in einem regelmäßigen Rhythmus – wie das an den Himmel gezeichnete Elektrokardiogramm eines gleichmäßig schlagenden Herzens.
    Sie sah voraus, in den Nebel, der die Schienen und die Weite miteinander verschmelzen ließ; ein Nebel, der jeden Augenblick aufreißen konnte, um irgendeine Katastrophe freizugeben. Sie fragte sich, warum sie sich hier sicherer fühlte, als sie sich jemals hinter dem Lenkrad eines Automobils gefühlt hatte, hier, wo es den Anschein hatte, als würde ein auftauchendes Hindernis als Erstes ihre Brust und die Glasscheibe zerschmettern. Sie lächelte, als ihr die Antwort klar wurde: Es war die Sicherheit, ganz vorne zu sein, wo man die Strecke überblicken und die Fahrt verfolgen konnte – nicht die Blindheit, durch eine unbekannte Kraft ins Ungewisse gezogen zu werden. Es war das größtmögliche Gefühl des Seins: nicht zu vertrauen, sondern zu wissen.
    Die Glasscheiben in den Fenstern des Führerstandes ließen die Felder, die sich draußen erstreckten, noch größer erscheinen: Die Erde wirkte für Bewegung gleichermaßen offen wie für den Blick. Und doch war nichts weit entfernt und nichts unerreichbar. Eben hatte sie in der Ferne einen See aufblitzen sehen, und im nächsten Augenblick war er neben ihr, dann vorüber.
    Es war eine seltsame Verkürzung zwischen Sehen und Fühlen, dachte sie, zwischen Wunsch und Erfüllung, zwischen – die Worte schossen ihr nun, nachdem sie kurz erstaunt innegehalten hatte, mit größter Klarheit durch den Kopf – zwischen Geist und Körper. Zuerst der Anblick – dann die physische Form, die ihn zum Ausdruck bringt. Zuerst der Gedanke – dann die entschlossene Bewegung eine gerade Strecke hinunter bis hin zu einem erwählten Ziel.

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