Der Streik
Vorgeschmack dessen, was sie draußen vor den Jalousien erwartete. Sie dachte an die Rückreise auf den neuen Schienen mit dem ersten Zug, der von Wyatt Junction abfuhr, die Rückreise in ihr Büro im Taggart Building und zu all den Dingen, die jetzt darauf warteten, von ihr erobert zu werden – doch sie konnte es warten lassen, sie wollte nicht daran denken, sie dachte an die erste Berührung seines Mundes auf ihrem – sie konnte sich diesem Gefühl hingeben und diesen Augenblick festhalten, in dem nichts anderes von Bedeutung war. Trotzig lächelte sie den Himmelstreifen draußen vor den Jalousien zu.
„Ich möchte, dass du Folgendes weißt.“
Angezogen stand er neben dem Bett und sah auf sie herab. Er hatte die Worte ruhig, sehr klar und trocken ausgesprochen. Gehorsam blickte sie zu ihm auf. Er sagte: „Was ich für dich empfinde, ist Verachtung. Aber es ist nichts im Vergleich zu der Verachtung, die ich für mich selbst empfinde. Ich liebe dich nicht. Ich habe nie jemanden geliebt. Ich wollte dich vom ersten Augenblick an, als ich dich sah. Ich wollte dich, wie man eine Hure will – aus demselben Grund und zum gleichen Zweck. Zwei Jahre lang habe ich damit verbracht, mich selbst zu verfluchen, weil ich dachte, dass du über ein derartiges Verlangen erhaben wärst. Das bist du nicht. Du bist ebenso niedrig und animalisch wie ich. Es sollte mich vor dieser Erkenntnis ekeln. Aber das ist nicht der Fall. Gestern noch hätte ich jeden umgebracht, der behauptet hätte, dass du zu den Dingen in der Lage wärst, die ich dich tun ließ. Heute würde ich mein Leben dafür geben, damit es nicht anders wäre, damit du nichts anderes wärst als das Flittchen, das du bist. All die Größe, die ich in dir sah – ich würde sie nicht gegen deine Begabung zu einem schamlosen, animalischen Lustempfinden eintauschen. Wir waren zwei große Wesen, du und ich, stolz auf unsere Stärke, nicht wahr? Nun, das ist alles, was jetzt von uns geblieben ist – und ich möchte nicht, dass wir uns darüber Illusionen machen.“
Er sprach so langsam, als wollte er sich mit seinen Worten geißeln. Kein Gefühl schwang in seiner Stimme mit, nur teilnahmslose Anstrengung. Es war nicht der Ton eines Mannes, der sprechen wollte, sondern der hässliche, gequälte Klang einer Pflicht.
„Ich war immer stolz darauf, niemanden zu brauchen. Jetzt brauche ich dich. Ich war immer stolz darauf, nach meinen Überzeugungen zu handeln. Jetzt habe ich einem Verlangen nachgegeben, das ich verachte. Es ist ein Verlangen, das meinen Verstand, meinen Willen, mein Wesen und meine Lebenskraft auf eine erbärmliche Abhängigkeit von dir erniedrigt. Es ist keine Abhängigkeit von der Dagny Taggart, die ich bewunderte, sondern von deinem Körper, deinen Händen, deinem Mund und den wenigen Sekunden einer Konvulsion deiner Muskeln. Ich habe noch nie mein Wort gebrochen. Jetzt habe ich einen Schwur fürs Leben gebrochen. Ich habe nie eine Tat begangen, die versteckt werden musste. Jetzt werde ich lügen, heimlich tun und mich verbergen müssen. Alles, was ich wollte, konnte ich immer frei und laut aussprechen und vor dem Angesicht der ganzen Welt vollbringen. Nun ist mein Verlangen eines, das mich ekelt, vor mir selbst einzugestehen. Aber es ist mein einziges Verlangen. Ich werde dich haben – ich würde alles, was ich besitze, dafür aufgeben, das Stahlwerk, das Metall, die Errungenschaften meines ganzen Lebens. Ich werde dich zu einem Preis haben, der über meinem eigenen Wert liegt: zu dem Preis meiner Selbstachtung – und ich möchte, dass du das weißt. Ich möchte keine Vorwände, keine Ausflüchte, kein stilles Entgegenkommen, während die Art unseres Handelns unbenannt bleibt. Ich möchte keinen Anschein von Liebe, Wertschätzung, Loyalität oder Respekt. Ich will, dass uns kein Funken Ehre bleibt, hinter dem wir uns verstecken könnten. Ich habe nie um Gnade gebettelt. Ich habe mir das hier ausgesucht – und ich trage im vollen Bewusstsein meiner Entscheidung alle Konsequenzen. Dies ist Verdorbenheit, und als solche akzeptiere ich es – und es gibt keine hehre Tugend, die ich dafür nicht aufgeben würde. Wenn du mir jetzt ins Gesicht schlagen möchtest, nur zu. Ich wünschte, du würdest es tun.“
Sie hatte aufrecht sitzend zugehört und hielt dabei die Decke vor dem Hals umklammert, um ihren Körper zu bedecken. Anfangs hatte er gesehen, wie ihre Augen sich vor Schreck ungläubig verfinsterten. Dann schien ihm, dass sie mit immer größerer
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