Der Streik
Das hier ist die Hauptstadt der Renaissance. Der zweiten Renaissance – keine Epoche der Ölbilder und Kathedralen, sondern eine der Bohrtürme, der Kraftwerke und der Motoren aus Rearden-Metall. Es gab die Steinzeit und die Eisenzeit, und jetzt wird man es die Rearden-Metall-Zeit nennen, weil dem, was Ihr Metall möglich gemacht hat, keine Grenzen gesetzt sind.“
„Ich werde ein paar Quadratmeilen in Pennsylvania kaufen“, sagte Rearden. „Das Land rings um mein Stahlwerk. Es wäre billiger gewesen, hier eine Zweigstelle zu bauen, wie ich es wollte, aber Sie wissen ja, warum ich das nicht kann. Zum Teufel mit ihnen! Aber ich werde sie trotzdem besiegen. Ich werde das Stahlwerk ausbauen – und wenn Dagny mir die Güter in drei Tagen nach Colorado transportieren kann, liefere ich mir mit Ihnen ein Rennen, das erst zeigen wird, was die Hauptstadt der Renaissance ist!“
„Geben Sie mir ein Jahr“, sagte Dagny, „um Züge auf der John-Galt-Linie verkehren zu lassen, geben Sie mir Zeit, um das Taggart-Schienennetz in Ordnung zu bringen – und ich gebe Ihnen einen Gütertransport quer über den Kontinent in drei Tagen, auf einer Rearden-Metall-Linie von Ozean zu Ozean!“
„Wer sagte noch gleich, er brauche einen Angelpunkt?“, fragte Ellis Wyatt. „Gebt mir freie Fahrt, und ich werde ihnen zeigen, wie man die Welt bewegt!“
Sie fragte sich, was sie an dem Klang von Wyatts Lachen mochte. Alle drei Stimmen, auch ihre eigene, hatten einen Klang angenommen, den sie so noch nie gehört hatte. Als sie sich vom Tisch erhoben, war sie erstaunt darüber, dass die Kerzen die einzige Beleuchtung des Raumes waren: Sie hatte den Eindruck gehabt, als säßen sie in einem gleißenden Licht.
Ellis Wyatt erhob sein Glas, blickte in ihre Gesichter und sagte: „Auf die Welt, wie sie in diesem Augenblick zu sein scheint!“
Er leerte das Glas in einem einzigen Zug.
Sie hörte das Splittern des an der Wand zerberstenden Glases in dem Augenblick, als sie eine wirbelnde Bewegung sah – seinen gebeugten Körper und seinen ausholenden Arm, der das Glas mit aller Gewalt durch den Raum schleuderte. Es war nicht die übliche, feierlich gemeinte Geste, sondern ein Akt aufständischer Wut, eine Geste, die einen Schmerzensschrei durch eine heftige Bewegung ersetzte.
„Ellis“, flüsterte sie, „was haben Sie?“
Er wandte sich zu ihr um. Ebenso plötzlich hatten sich seine Augen wieder erhellt, sein Gesicht war ruhig. Was ihr Angst machte, war, dass sie ihn sanft lächeln sah. „Es tut mir leid“, sagte er. „Es ist nichts. Ich werde versuchen zu glauben, dass sie so bleiben wird.“
Die Erde unter ihnen war vom Mondlicht beschienen, als Wyatt sie über eine Außentreppe zur zweiten Etage des Hauses führte, durch einen offenen Gang bis zu den Türen der Gästezimmer. Er wünschte ihnen eine gute Nacht, und sie hörten seine Schritte, wie er die Treppe hinabstieg. Das Mondlicht schien Geräusche ebenso zu verschlucken wie Farben. Die Schritte verklangen in der Ferne, und als sie verstummt waren, erschien die Stille wie die einer lang anhaltenden Einsamkeit, als gäbe es nirgendwo in der Nähe einen einzigen Menschen.
Sie wandte sich nicht ihrer Zimmertür zu. Auch er rührte sich nicht. Unter ihren Füßen war nichts außer einem dünnen Gitter und leerem Raum. Schroffe Felsebenen fielen nach unten ab, und auf dem vom Mondlicht erleuchteten Stein wiederholten die Schatten der Bohrtürme in schwarzen Linien ihr stählernes Flechtwerk. Vereinzelte Lichter zitterten rot und weiß in der klaren Luft wie Regentropfen, die sich am Rand eines Stahlträgers sammelten. Weit entfernt leuchteten drei kleine grüne Tropfen, die in einer Reihe entlang der Taggart-Linie angeordnet waren. Dahinter, wo der Blick endete, hing am Fuße einer weißen Kurve ein rechteckiges Netz – die Brücke.
Sie fühlte einen Rhythmus ohne Klang oder Bewegung, nur ein Gefühl pochender Spannung, als preschten die Räder der John-Galt-Linie immer noch vorwärts. Ganz langsam, einem unausgesprochenen Ruf folgend und sich ihm gleichzeitig widersetzend, drehte sie sich um und sah ihn an.
Der Ausdruck in seinem Gesicht ließ sie zum ersten Mal erkennen, dass sie gewusst hatte, dass dies das Ende der Reise sein würde. Dieser Ausdruck hatte nichts von dem, was andere Männer gelernt hatten zu zeigen: keine schlaffen Muskeln, keine hängenden Lippen, kein geistloses Verlangen. Seine Gesichtszüge waren straff gespannt, was ihnen eine besondere Reinheit und
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