Der Streik
Wesley Mouch.“
*
Dagny stand am Fenster ihres Wohnzimmers und blickte auf die Stadt. Er war schon spät, und die Lichter erinnerten an die letzte Glut, die in den schwarzen Resten eines Lagerfeuers funkelte.
Sie fühlte eine innere Ruhe und wünschte, sie könnte ihre Gedanken anhalten, damit ihre Gefühle sie einholen konnten und sie jeden Augenblick des Monats, der an ihr vorbeigerast war, betrachten konnte. Sie hatte keine Zeit gehabt zu begreifen, dass sie wieder in ihrem eigenen Büro bei Taggart Transcontinental saß. Es war so viel zu tun gewesen, dass sie vergessen hatte, dass sie aus dem Exil zurückgekehrt war. Sie hatte nicht gehört, was Jim bei ihrer Rückkehr gesagt hatte oder ob er überhaupt etwas gesagt hatte. Es hatte nur eine Person gegeben, deren Reaktion sie interessiert hatte: Sie hatte im Hotel Wayne-Falkland angerufen; aber man sagte ihr, Señor Francisco d’Anconia sei zurück nach Buenos Aires gereist.
Sie dachte an den Augenblick, als sie ihre Unterschrift unter ein langes Dokument setzte, den Augenblick, der die Geschichte der John-Galt-Linie beendete. Von nun an war es wieder die Rio-Norte-Linie von Taggart Transcontinental – abgesehen davon, dass die Männer der Zugbesatzungen sich weigerten, den Namen aufzugeben. Auch für sie war es schwierig, ihn loszulassen. Sie zwang sich, sie nicht „die John-Galt“ zu nennen, und fragte sich, warum es sie Mühe kostete und warum sie einen leichten Anflug von Traurigkeit verspürte.
Eines Abends bog sie aus einer plötzlichen Laune heraus um die Ecke des Taggart Buildings, um einen letzten Blick auf das Büro der John Galt Inc. in der Seitengasse zu werfen. Sie wusste nicht, was sie bezweckte – es nur ansehen, dachte sie. Eine Absperrung aus Holzplanken war entlang des Bürgersteiges errichtet worden: Das alte Gebäude würde abgerissen werden; es hatte letztendlich aufgegeben. Sie war über die Planken geklettert und hatte im Licht der Straßenlaterne, die einst den Schatten eines Fremden auf das Pflaster geworfen hatte, durch die Fenster ihres früheren Büros gesehen. Vom Erdgeschoss war nichts übriggeblieben; Trennwände waren niedergerissen worden, durchtrennte Rohrleitungen hingen von der Decke, und auf dem Fußboden lagerte ein Haufen Schutt. Es war nichts zu sehen.
Sie hatte Rearden gefragt, ob er letzten Frühling eines Nachts dorthin gekommen war und gegen seinen Wunsch einzutreten ankämpfend draußen vor ihrem Fenster gestanden hatte. Aber noch bevor er ihr antworten konnte, hatte sie gewusst, dass er es nicht gewesen war. Sie sagte ihm nicht, warum sie gefragt hatte. Sie wusste nicht, warum diese Erinnerung sie manchmal immer noch irritierte.
Vor dem Fenster ihres Wohnzimmers hing das erleuchtete Viereck des Kalenders wie ein kleines Versandetikett im schwarzen Himmel. Darauf stand: 2. September. Sie lächelte trotzig, wenn sie an das Rennen dachte, das sie sich mit den umschlagenden Kalenderblättern geliefert hatte. Nun gab es für sie keine Fristen mehr, dachte sie, keine Hürden, keine Bedrohungen, keine Grenzen.
Sie hörte, wie ein Schlüssel sich im Schloss ihrer Wohnung drehte; dies war das Geräusch, auf das sie gewartet hatte und das sie heute Abend hören wollte.
Wie so viele Male zuvor kündigte Rearden sein Kommen nur dadurch an, dass er den Schlüssel benutzte, den sie ihm gegeben hatte, und trat ein. Er warf seinen Hut und seinen Mantel mit einer mittlerweile gewohnten Geste auf einen Sessel; darunter trug er das elegante Schwarz eines Abendanzugs.
„Hallo“, sagte sie.
„Ich warte immer noch auf den Abend, an dem du nicht zu Hause bist“, antwortete er.
„Dann müsstest du im Büro von Taggart Transcontinental anrufen.“
„An jedem Abend? Nirgends sonst?“
„Eifersüchtig, Hank?“
„Nein. Aber neugierig, wie sich das anfühlen würde.“
Er sah quer durch das Zimmer zu ihr hin und verbot sich, zu ihr hinzugehen, um bewusst das Vergnügen zu verlängern, das in dem Wissen lag, es jederzeit tun zu können. Sie trug den engen, grauen Rock eines Geschäftskostüms und dazu eine Bluse aus weißem, transparentem Stoff im Schnitt eines Herrenhemdes; in der Taille wurde die Bluse weiter und betonte so ihre schmalen Hüften. Gegen den Schein der Lampe hinter ihr konnte er die schlanke Linie ihres Körpers unter dem Stoff der Bluse erkennen.
„Wie war das Bankett?“, fragte sie.
„In Ordnung. Ich bin geflüchtet, sobald ich konnte. Warum bist du nicht gekommen? Du warst
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